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Wilhelm Storitz' Geheimnis

Wilhelm Storitz' Geheimnis

Titel: Wilhelm Storitz' Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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daß es dem Eigentümer materiell unmöglich gemacht würde, auf irgend eine Weise hinein zu gelangen. Folglich war er gleichzeitig seines Laboratoriums und seines geheimen Vorrates beraubt, wenn ein solcher bestand. Er war dann durch die Tatsachen gezwungen, entweder nach mehr oder minder langer Frist wieder menschliche Gestalt anzunehmen oder für immer unsichtbar zu bleiben, was ihn jedenfalls auf die Dauer schwächen mußte! Und wenn die Hypothese beginnenden Wahnsinns begründet war, so mußte dessen Ausbruch zweifellos durch die dem Bösewicht entgegengestellten Hindernisse beschleunigt werden und Wilhelm Storitz wurde zu Unvorsichtigkeiten hingerissen, die ihn uns in die Hände liefern mußten.
    Herr Stepark setzte meinen Wünschen nicht die geringste Schwierigkeit entgegen. Auch er hatte schon daran gedacht – wenn auch aus anderen Beweggründen – das Haus Wilhelm Storitz’ ganz abschließen zu lassen. Er hielt dieses Vorgehen für nötig, um die Stadt zu beruhigen, die sich bisher eines so glücklichen Daseins erfreut hatte, daß sie ein Gegenstand des Neides für die anderen ungarischen Städte war; jetzt aber befand sie sich in einem alle Begriffe übersteigenden Zustande krankhafter Erregung.
    Ich könnte Ragz am besten mit einer Stadt vergleichen, die, in einem vom Feinde eroberten Lande, stündlich auf die Beschießung wartet, wobei jeder Bewohner sich angsterfüllt fragt, wohin wohl die erste Kugel fallen, welches Haus zuerst zerstört werden würde.
    Es war ja auch wirklich von Wilhelm Storitz alles zu erwarten, nachdem er die Stadt nicht verlassen hatte, und er bemühte sich auch, dies jedermann zur Kenntnis zu bringen.
    Im Hause des Doktors war die Lage noch sehr ernst. Die unglückliche Myra hatte ihre Verstandeskräfte noch immer nicht zurückerlangt. Ihre Lippen öffneten sich nur, um unzusammenhängende Worte zu murmeln, ihre zerstörten Blicke sahen immer ins Leere. Sie hörte uns nicht. Sie erkannte weder ihre Mutter, noch Markus, welcher sich bald mit Frau Roderich in der Hütung der Kranken teilen konnte, in diesem Mädchenzimmer, das immer so freundlich aussah und jetzt voll Traurigkeit war. War es nur eine vorübergehende Geistesstörung, eine Krise, die sich schließlich zum Bessern wenden würde – oder war es unheilbarer Wahnsinn! Niemand wußte es!
    Ihre Schwäche war groß, alle Triebfedern des Lebens schienen gebrochen. Sie lag auf ihrem Bette fast ohne Bewegung, nur selten versuchte sie, die Hand zu heben. Wir fragten uns in solchen Augenblicken, ob sie vielleicht versuche, den dichten Schleier der Bewußtlosigkeit zu zerreißen, der sie umgab, ob es nicht eine Willenskundgebung bedeute…. Markus beugte sich dann über sie, sprach mit ihr, bemühte sich, eine Antwort von ihren Lippen abzulesen, einen Blick zu erhaschen…. Die Augen blieben geschlossen und die kaum gehobene Hand fiel kraftlos auf die Decke nieder.
    Frau Roderich hielt sich mit dem Aufgebote der ihr innewohnenden moralischen Kraft aufrecht. Kaum daß sie sich einige Stunden der Ruhe gönnte, weil es ihr Mann unbedingt verlangte, und welche Kraft konnte dieser von wilden Träumen begleitete, bei dem leisesten Geräusch unterbrochene Schlaf der Armen geben? Sie glaubte immer Schritte in ihrem Zimmer zu vernehmen. Trotz all der Vorsichtsmaßregeln meinte sie die Gegenwart des schrecklichen, unsichtbaren Feindes zu fühlen und fürchtete, daß er dennoch eingedrungen sei und das Lager ihrer Tochter umschleiche…. Ganz verstört erhob sie sich und fühlte sich nur dann beruhigt, wenn sie den Doktor oder Markus an Myras Bett sah. Wenn diese Situation sich noch lange hinzog, mußte auch sie unterliegen.
    Täglich traten mehrere Kollegen des Doktors zu einer Konsultation zusammen. Man hatte die Kranke oft lange und sorgsam untersucht, aber niemand war imstande, ein Urteil über diese andauernde geistige Trägheit zu fällen. Keine Rückwirkung, keine Krise, immer dieselbe Gleichgültigkeit allen Einwirkungen von außen gegenüber, dieselbe vollständige Geistesabwesenheit, dieselbe totenähnliche Ruhe; die Kunst war ohnmächtig, dagegen anzukämpfen.
    Sobald sich mein Bruder auf den Füßen halten konnte, das war nach drei Tagen, verließ er das Zimmer Myras für keine Minute. Ich blieb immer zu Hause, ausgenommen meine kurzen Besuche im Rathaus. Herr Stepark berichtete mir über das Gerede in der Stadt. Ich wußte durch ihn, daß die Bevölkerung noch in steter Furcht vor etwas Schrecklichem schwebte. In ihrer

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