Will Trent 01 - Verstummt
das letzte Mädchen. Wir nannten sie unser mittleres Kind, weil sie uns so sehr zu schaffen machte.« Sie ging zu einem anderen Foto, einem anderen Kind. »Ashley ist die Älteste. Sie ist Gynäkologin wie ihr Vater.« Sie deutete auf ein weiteres Foto. »Clinton ist Orthopäde, Gerald Psychiater, Harley klassischer Pianist. Mason...« Sie nahm
einen kleinen, wie ein Hund geformten Rahmen zur Hand und lachte. »Er ist Hundepfleger, Gott möge ihn beschützen.« Mit besonderer Sorgfalt stellte sie das Foto auf den Flügel zurück, und Will fragte sich, ob Mason der Liebling seiner Mutter war.
Sechs Kinder. Ein luxuriöses Haus. Jede Menge Kleidung und Essen und Eltern, die einen liebten. Wie mochte es wohl sein, in so einem Haus aufzuwachsen? Warum hatte Aleesha all dem den Rücken gekehrt?
Natürlich war Will schon viel zu lange Polizist, um hier nur nach dem äußeren Schein zu urteilen. Er wusste aus Erfahrung, dass Drogensüchtige im Allgemeinen nicht als die glücklichsten Menschen auf der Welt galten. Sie griffen zu Drogen aus einem bestimmten Grund, ob nun aus dem Wunsch, irgendwo dazuzugehören, oder dem Drang, irgendwo auszusteigen. Der abwesende Vater konnte eine Art Sadist sein. Die Brüder hatten bei ihren ersten sexuellen Erfahrungen vielleicht nicht weiter als bis zu ihrer eigenen Haustüre geschaut. Die ältere Schwester war vielleicht eine Überfliegerin, die einen Schatten warf, in dem nichts anderes gedeihen konnte.
Aber Will war nicht hier, um die Leichen im Keller der Monroes auszugraben. Er war hier, um dieser Frau zu sagen, dass sie ihre vor so langer Zeit verlorene Tochter nun für immer verloren hatte.
Er fragte: »Sie haben Ihre Tochter seit zwanzig Jahren nicht gesehen?« »Mindestens.«
»Keine Anrufe? Keine Karten oder Briefe?«
Miriam erinnerte sich: »Vor ein paar Jahren kam ein Anruf. Sie war im Gefängnis. Sie wollte Geld.«
Michael hatte gesagt, dass Aleesha nur Baby G als Kontaktperson angegeben hatte, als sie verhaftet wurde. Doch der Diensthabende im Gefängnis hätte sicher notiert, wen sie anrief und wer sie besuchte, wenn sie mehr als einen Tag einsaß.
Will fragte: »Haben Sie selbst mit ihr gesprochen?«
»Ja«, antwortete sie. »Das Gespräch dauerte höchstens eine Minute. Ich sagte meiner Tochter, dass ich ihr kein Geld geben würde, und sie knallte einfach den Hörer auf.« Dann ergänzte Miriam: »Das war das letzte Mal, dass wir von ihr etwas hörten. Ich weiß nicht einmal, wo sie jetzt lebt.«
»Haben Sie eine Ahnung, welchen Umgang sie pflegte? Wer ihre Freund waren?«
Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Officer, aber ich habe Sie gewarnt, dass ich Ihnen keine große Hilfe sein werde.« Sie schaute auf ihre Hand, die noch auf dem Flügel lag. »Könnten Sie mir sagen, was sie getan hat? Sie hat doch nicht...« Sie sah zu Will und senkte dann wieder den Kopf. »Sie hat doch niemandem etwas getan, oder?«
Will spürte einen Kloß im Hals. »Leben Ihre anderen Kinder hier in der Nähe?«
»Nicht nahe genug«, erwiderte sie, und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. »Mason wohnt nur ein paar Blocks entfernt, aber auch das ist nicht nahe genug, wenn man drei Enkel hat, die man verwöhnen will.«
»Vielleicht sollten Sie ihn anrufen?«
Ihr Lächeln verschwand. »Warum?«
»Mrs. Monroe, es wäre mir wirklich lieber, wenn Sie Ihren Sohn anrufen würden oder sonst jemanden, der vorbeikommen und Ihnen Beistand leisten könnte.«
Sie sackte gegen den Flügel, wie zuvor schon an die Haustüre. Der Hund knurrte, als Will aufstand.
Miriams Kehlkopf zuckte. »Ich nehme an, Sie werden mir jetzt sagen, dass sie schließlich zu viel genommen hat.«
»Nein, Ma'am.« Er deutete auf die Couch. »Würden Sie sich bitte setzen?«
»Ich werde nicht in Ohnmacht fallen«, entgegnete sie, doch ihre schokoladenbraune Haut war ein wenig blasser geworden. »Sagen Sie mir, was mit meiner Tochter passiert ist.«
Will hätte es ihr einfach sagen und sie dann mit ihrem Schmerz allein lassen sollen, aber er konnte es nicht. Zu seiner Überraschung klang er fast so, als würde er flehen. »Mrs. Monroe, bitte setzen Sie sich.«
Sie ließ sich von ihm zur Couch führen, und er nahm neben ihr Platz. Er sollte ihre Hand nehmen, etwas tun, um sie zu beruhigen, aber Will fühlte sich nicht in der Lage, sie zu trösten. Er wusste allerdings, dass dieses Hinauszögern des Unvermeidlichen so ziemlich das Selbstsüchtigste war, was er in seinem Leben getan hatte.
Er sagte: »Aleesha
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