Will Trent 01 - Verstummt
teile seit zwölf Jahren das Bett mit ihr, John. Ich glaube, ich kenne sie viel besser als irgendjemand auf dieser Welt.«
Joyce war also lesbisch. John fragte sich, was Richard davon hielt. Der Sohn ein verurteilter Vergewaltiger und Mörder, die Tochter eine Powerlesbe. John musste grinsen bei dem Gedanken an das Ausmaß von Richards Enttäuschung.
Kathy hatte gefragt: »Stört es Sie, dass Ihre Schwester eine Lesbe ist?«
»Also, eigentlich habe ich gar keine Zeit zum Reden«, hatte John geantwortet und dabei gedacht: Mann, Richard muss stinksauer gewesen sein, als er das herausfand. Seine perfekte Joyce tummelte sich am anderen Ufer.
Kathy fuhr einen schwarzen Porsche, die Art von Auto, die John nur auf allen vieren sah, wenn er den Müll herausräumte. Sie war mit ihm die Piedmont Road entlanggefahren, dann auf der Sidney Marcus rechts abgebogen und hatte den Wagen schließlich vor einem kleinen Gebäude an der Lenox Road kurz vor der Interstate abgestellt. Auf dem Schild an der Tür stand »Keener, Rose and Shelley« in ausgefallener, goldener Schrift. Das Auto neben ihnen, ein graphitgrauer BMW, parkte auf dem für Joyce Shelley reservierten Platz.
Joyce arbeitete weniger als zwei Meilen vom Gorilla entfernt. Vielleicht fuhr sie auf ihrem Weg zur Arbeit ja jeden Tag an ihm vorbei.
»Sie macht eben noch einen Vertragsabschluss«, erklärte Kathy. »Es wird nicht lange dauern.
Johns Knie knackten, als er sich aus dem niedrigen Autositz stemmte. Er musste sich immer mal wieder daran erinnern, dass er schon fast vierzig Jahre alt war. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich noch wie fünfzehn, als wäre Coastal einem anderen John passiert, als wäre sein Hirn dort gewesen, während sein Körper draußen geblieben war, alterslos darauf wartend, dass er zurückkehrte und ihn wieder in Besitz nahm.
»Wir warten in ihrem Büro«, schlug Kathy vor und führte ihn durch das Gebäude. Die Augen der Empfangsdame folgten John, als er an ihr vorbeiging. Er stellte sich vor, dass sie, vom Hausmeister einmal abgesehen, nicht daran gewöhnt war, Leute wie ihn hier zu sehen.
»Dort hinten.« Kathy hatte ein paar Notizen aus einem Fach mit ihrem Namen gezogen und las sie, während sie den Gang entlanggingen.
Joyces Büro war schön, genau so, wie er es sich vorgestellt hätte, wenn er über seine Schwester und ihr Leben nachgedacht hätte. Der Perserteppich auf dem Boden wies kräftige Blau- und Burgundertöne auf, und die Vorhänge bestanden aus dünnem Leinen, das das Sonnenlicht durchließ. Die Wandfarbe war ein warmes Beige. Die Farben wirkten maskulin, aber Joyce hatte sie auf sehr feminine Art verwendet. Vielleicht hatte auch irgendein Designer das Büro eingerichtet, irgendeine teure Tussi aus Buckhead, die dafür bezahlt wurde, reicher Leute Geld zu verschwenden. Es gab ein paar orientalisch wirkende Gemälde, nicht gerade Johns Geschmack, aber beim Betrachten der auf der Kommode stehenden Fotos verspürte John einen Stich ins Herz.
Joyce und John als Kinder in einem ausgehöhlten Baumstamm in der Wasserbahn in Six Flags. John als Baby auf Richards Schoß, der ihm die Flasche gab. Joyce mit zehn Jahren in ihrem Bikini am Strand, ein Eis am Stiel in jeder Hand. Es gab auch neuere Fotos. Kathy und Joyce im Zoo. Kathy auf einem Pferd vor einem Berg im Hintergrund. Zwei Labrador-Retriever, die auf dem Rasen spielten.
Das Foto, das ihn innehalten ließ, war eins von seiner Mutter. Emily mit einem Tuch um den Kopf, die Augen eingesunken, die Wangen hohl. Aber sie lächelte. Seine Mutter hatte schon immer ein wunderschönes Lächeln gehabt.
Viele Nächte hatte John nur überstanden, weil er an dieses Lächeln dachte, wie freigebig sie damit war, eine echte Freundlichkeit dahinter. Bei ihrem Anblick traten ihm Tränen in die Augen, und es schmerzte ihn körperlich, dass er sie nie wiedersehen würde.
Kathy sagte: »Emily war ein wunderbarer Mensch.«
John zwang sich, das Foto wieder an seinen Platz zurückzustellen. Mit dem Handrücken wischte er sich über die Augen. »Sie kannten Sie?«
»Ja«, antwortete Kathy. »Joyce stand ihr sehr nahe. Als sie krank wurde, war das ziemlich schwer für uns alle.«
»Ich...« John wusste nicht so recht, wie er das sagen sollte. »Ich kann mich nicht erinnern, Sie beim Begräbnis gesehen zu haben.«
»Ich war dort«, sagte sie, und er bemerkte die Anspannung um ihre Augen. »Ihr Vater ist nicht gerade ein Befürworter unserer Beziehung.«
»Nein«, sagte John. »Bestimmt
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