Will Trent 01 - Verstummt
31
9. Februar 2006 9.58 Uhr
Offensichtlich hatte Martha Lam nicht nur einen, sondern mehrere Anrufe getätigt. John hatte die ihm zustehende Rückerstattung der Miete in der Absteige in voller Höhe zurückbekommen, und das Zimmer bei Mr. Applebaum war pro Monat fast dreißig Dollar billiger. Zusammen mit den
fünfzig Dollar, die John für den Sondereinsatz im Staubsaugertank bekommen hatte, würde er sich diesen Monat vielleicht sogar etwas Vernünftiges zu essen leisten können.
»Verdammt«, sagte Ray-Ray. Er starrte zu einer Frau hinüber, die eben mit einem Toyota Camry voller kreischender Kinder auf den Platz gefahren war. »Sie kann ja nichts dafür, dass sie hässlich ist, aber dann könnte sie wenigstens zu Hause bleiben.«
John warf ihm einen Seitenblick zu. »Seit wann kannst du denn in ganzen Sätzen sprechen?«
»Auch ein schwarzer Bruder hat seine Geheimnisse.« Er überließ John die Arbeit am Trockner und ging zu einem anderen Kollegen, um ihm beim Abledern eines Fahrzeugs zu helfen. Johns prekärer Frieden mit Ray-Ray war einer gewissen Freundlichkeit von Seiten des anderen gewichen, seit John ihn ins Krankenhaus gebracht hatte. John wusste nicht so recht, was diesen Sinneswandel ausgelöst hatte, aber er wollte sich nicht beklagen. Es gab schon genug Leute, die hinter ihm her waren. Wenn er nun nicht mehr auf der Hut sein musste vor Ray-Ray, war ihm das nur recht.
Der Besuch im Krankenhaus war auch für John eine gute Sache gewesen. Noch immer hüpfte ihm das Herz in der Brust, wenn er daran dachte, wie er Robin im Wartebereich getroffen hatte. Sie hatte zwar ihre Arbeitskluft getragen, aber er konnte nicht anders, als vor allem ihre weiche Haut und ihre vollen Lippen zu sehen. Die Art, wie sie dastand, das Gewicht auf ein Bein verlagert, eine Hüfte ausgestellt. Wie es wohl wäre, mit der Hand über diese Hüfte zu streicheln und sie an sich zu ziehen? Das war die Art von Gedanken, die einen Mann nachts wach hielt.
Robin aber war nicht der Grund, warum John an diesem Morgen sehr früh, sogar noch vor Art, zur Arbeit erschienen war. Aus einer Bude in eine anderen zu ziehen war keine große Sache. John hatte seine Klamotten in die Kühlbox gestopft, sie als Koffer benutzt und war die sechs Blocks bis zu Mr. Applebaums Haus zu Fuß gegangen. Nachdem John seine Sachen verstaut hatte, war er noch einmal in die Ashby Street zurückgekehrt und hatte das ausgebuddelt, was dort unter einem Baum vergraben lag. Die ganze Strecke im Bus hatte er geschwitzt, weil er befürchtete, mit einer Waffe erwischt zu werden. In der Waschanlage hatte er sie in den Staubsaugertank geworfen und sich dann auf das Mäuerchen unter dem Magnolienbaum gesetzt, bis Art mit seinem Cadillac daherkam und ihn, während er die Autotür zuschloss, fragte: »Was ist denn los, Shelley? Buckeln für eine Beförderung?«
John bemühte sich, logisch zu denken, sich die nächsten Schritte zu überlegen, aber sosehr er auch versuchte, sich zu konzentrieren, spürte er in sich nichts anderes als brennende Wut. Michael hatte ihm das Messer unter die Matratze in der Absteige gelegt, so wie er vor all diesen Jahren das Küchenmesser, die sogenannte Mordwaffe, in Johns Schrank versteckt hatte. Was, zum Teufel, hatte der Kerl nur gegen ihn? Was hatte John Michael je angetan, dass er sich derart rächte? Nicht nur an ihm, sondern an seiner ganzen Familie.
Dass er John damals diese Sache in die Schuhe geschoben hatte, war eine Sache, aber dass er jetzt weitermachte, dass er seine Identität benutzte, während er im Gefängnis saß... das musste eine Art perverser Obsession sein. Michael hasste ihn. Man benutzte nicht jahrelang den Namen eines Mannes, wenn man diesen Kerl nicht wirklich abgrundtief hasste. Und der Wichser hatte offensichtlich seine Stellung bei der Polizei dazu benutzt, Einfluss auf Ms. Lam zu nehmen, damit sie ihn wieder zu den Pädophilen und Vergewaltigern ins Coastal steckte. Es reichte ihm nicht, John etwas anzuhängen. Er wollte, dass er litt.
John hatte sich im Lauf der Jahre an seinen Freiheitsverlust gewöhnt, hatte sich bis zu einem gewissen Grad sogar eingeredet, dass er zu Männern wie Ben Carver gehörte. Er war ein schlechter Junge gewesen, ein schlechter Sohn. Richard Shelley hätte das bezeugen können. Doch auch ohne dessen niederschmetternde Meinung war John seiner eigenen Ansicht nach nicht völlig unschuldig an Mary Alices Ermordung. Er hatte sie zu der Party eingeladen. Er war zugedröhnt gewesen. Er
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