Will Trent 01 - Verstummt
Sie meinte, sie hätte die Lust dran verloren. Sie konnte sich nie verzeihen, dass sie nicht fähig war, dir zu helfen.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
Joyce war offensichtlich bestürzt über den Hass in seiner Stimme. »Ich meine das ernst, John. Sie hat sogar Mom im Krankenhaus besucht.«
»Wann war das?«
»Ich glaube, an dem Tag, bevor Mom starb. Sie hatten ihr eben den Schlauch in die Luftröhre gesteckt, damit sie noch Luft bekam.« Joyce hielt inne, um sich zu sammeln. »Sie litt unter starken Schmerzen. Man hatte ihr eine Morphiuminfusion gelegt. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie mitbekam, dass Kathy und ich da waren, geschweige denn Lydia.«
»Was sagte Lydia zu ihr?«
»Ich habe keine Ahnung. Wir ließen die beiden allein.« Dann fügte sie hinzu: »Sie sah wirklich schlecht aus, Tante Lydia meine ich. Sie hatte Mom jahrelang nicht gesehen, aber sie konnte nicht aufhören zu weinen. Ich hätte nie gedacht, dass die beiden sich so nahe standen, aber vielleicht während des Prozesses... Ich weiß auch nicht. Ich war damals so aufgewühlt, dass ich auf niemanden groß geachtet habe.«
»Du konntest also gar nichts hören?«
»Nein«, antwortete Joyce. »Na ja, am Ende schon noch. Ich schätze, ich kam zu früh wieder ins Zimmer. Lydia hielt Moms Hand. Wir hatten ihr gesagt, die Ärzte würden ihr nicht mehr lange geben, höchstens noch einen Tag.« Joyce hielt inne, wahrscheinlich rief sie sich die Szene noch einmal ins Gedächtnis. »Mom hatte die Augen geschlossen - ich glaube, sie war sich gar nicht bewusst, dass Lydia da war.« Sie legte den Kopf schief. »Aber Lydia weinte. Sie weinte wirklich, John, als würde es ihr das Herz brechen. Sie zitterte und sagte immer wieder: >Es tut mir so leid, Emily, so leid.«< Nach
einer kurzen Pause fügte Joyce hinzu: »Sie hat sich nie verziehen, ist nie darüber hinweggekommen, dass sie deinen Fall verloren hatte.«
Ja, ja, dachte John. Inzwischen dürfte Tante Lydia deutlich darüber hinweg sein. Was gibt es Besseres, als jemandem seine Sünde zu beichten, der sie gleich darauf mit ins Grab nimmt?
»Wie war Mom, nachdem sie weggegangen ist?«, fragte er.
»Noch immer nicht bei sich«, antwortete Joyce. »Sie schlief die ganze Zeit. Es fiel ihr schwer, die Augen offen zu halten.«
»Hat sie irgendwas gesagt?«
»Sie konnte nicht, John. Sie hatte doch den Schlauch in der Luftröhre.«
John nickte. Jetzt fügte sich alles zusammen. Tante Lydias erste Aktion als seine Anwältin war es gewesen, sich mit ihm hinzusetzen und ihn dazu zu bringen, ihr alles über diese Nacht zu erzählen, alles, was passiert war. John hatte eine Heidenangst gehabt. Er hatte ihr die reine Wahrheit erzählt, und scheiß auf den Ehrenkodex, dass man keinen Freund verpfeift. Er berichtete ihr, dass Michael ihm, wie er dachte, eine Tüte mit Koks zugeworfen und er Mary Alice nach Hause begleitet hatte und durchs Fenster in ihr Schlafzimmer geklettert war. Er sprach über den Kuss und davon, wie sein Hirn explodiert war, als wäre in seinem Kopf eine Rakete losgegangen, und wie er am nächsten Morgen in Mary Alices Blut aufgewacht war.
Als John ihr die ganze Geschichte erzählt hatte, hatte Tante Lydia Tränen in den Augen. Sie nahm seine Hand - packte sie, um genau zu sein - so fest, dass es wehtat.
»Mach dir keine Sorgen, John«, hatte sie gesagt. »Ich kümmere mich um alles.«
Das tat sie auch. Und wie diese Hexe sich um alles kümmerte.
Joyce schaute ihn noch immer erwartungsvoll an. Sie sah müde, wenn nicht gar erschöpft aus. Das Make-up konnte die dunklen Ringe unter ihren Augen nicht verbergen. Sie ließ niedergeschlagen die Schultern hängen. Trotzdem konnte John nicht umhin festzustellen, dass sie jetzt schon ungefähr dreißig Minuten in ihrem Büro stand und mit ihm redete, ohne ihn auch nur ein einziges Mal angeschrien oder ihm etwas vorgeworfen zu haben.
Er fragte: »Wurden diese Drogen je getestet? Das weiße Pulver?«
»Natürlich. Lydia schickte das Zeug an ein privates Labor. Mom saß die ganze Woche wie auf glühenden Kohlen. Aber es wurde nichts Ungewöhnliches gefunden. Es war nur Kokain und Heroin.«
John spürte einen stechenden Schmerz im Unterkiefer. Er hatte wieder die Zähne zusammengebissen.
»Johnny«, sagte Joyce und klang so müde. »Erzähl's mir.«
Er klappte das Notizbuch seiner Mutter zu, das letzte Notizbuch, das sie für seinen Fall benutzt hatte, das Letzte, was sie je in Händen gehalten hatte, das sie mit ihrem Sohn
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