Will Trent 01 - Verstummt
auch wenn ihr ganzer Körper schmerzte. »Oh, Angie.«
John ging zu dem Mädchen. Er fühlte ihren Puls, untersuchte die Wunde auf ihrem Kopf.
Angie konnte nur Michael anstarren. Sie wollte, dass er sie sah, wollte, dass das Bild ihres Gesichts ihm nicht mehr aus dem Kopf ging.
Seine Augen waren offen. Er blinzelte einmal, zweimal. Blut breitete sich auf dem Boden vor ihm aus, das wie ein Fluss aus seinem Körper strömte. Rötliche Bläschen sammelten sich auf seinen Lippen, als seine Lunge sich mit Blut füllte. Sein Atem ging pfeifend.
Er wusste, was mit ihm geschah.
Er war entsetzt.
Will drückte seine Lippen an ihre Stirn. »Alles okay«, flüsterte er. »Das wird schon wieder.«
Michaels Lider flatterten. Gurgelnde Geräusche erfüllten den Raum, als er anfing, an seinem eigenen Blut zu ersticken. Sein Mund klappte auf, ein dünner Blutfaden lief seitlich an seinem Kinn entlang.
Angie spitzte die Lippen und warf ihm einen Abschiedskuss zu.
Kapitel 39
13. Februar 2006
Ihr?«, war alles, was Lydia Ormewood sagte, als sie ihre Haustür öffnete und John und Joyce dort stehen sah. Michaels Mutter hatte sich gut gehalten, wahrscheinlich aber musste sie viel Geld ausgeben, um so auszusehen. Obwohl John wusste, dass die Frau Ende sechzig war, wirkte ihre Gesichtshaut straff und gut durchblutet. Auch ihr Hals und ihre Hände, die sonst immer das Alter verrieten, waren so glatt wie Joyces.
Das Leben hatte es offensichtlich sehr gut mit ihr gemeint. Sie wohnte in Vinings, einem der teuersten Vororte Atlantas, in einem brandneuen, zweistöckigen Haus. Alle Wände waren weiß, auf den gebleichten Eichenböden lagen weiße Teppiche. Im Wohnzimmer befand sich ein glänzend weißer Flügel, und vor einem marmorierten offenen Kamin standen sich zwei schwarze Sofas gegenüber. An den Fenstern hingen cremefarbene Seidenvorhänge. Abstrakte Kunst in kräftigen Primärfarben schmückte die Wände, vermutlich alles Originale. Lydia selbst war monochrom gekleidet. Sie trug Schwarz. John wusste nicht, ob das ihr üblicher Stil war oder ob sie um ihren Sohn trauerte.
Joyce hatte sich im Gerichtsgebäude des DeKalb County befunden, als John verhaftet wurde, und war auf der Suche nach Lydia alte Gerichtsakten durchgegangen. Danach hatte sie sich Urlaub genommen und alle Behördenunterlagen durchwühlt, die sie finden konnte. Lydia hatte nach dem Tod ihres Mannes Barry noch zweimal geheiratet, sich dann wieder scheiden lassen und ihren Familiennamen jedes Mal geändert. Aber schließlich konnte Joyce sie durch eine Kontaktperson in der Sozialversicherungsbehörde ausfindig machen. Onkel Barry war zum Zeitpunkt seines Todes voll ins System integriert, und vor vier Jahren hatte Lydia angefangen, seine Sozialversicherungsschecks zu kassieren.
Drei Tage später war Joyce im Besitz von Lydias Adresse.
Sie hatten sich vor dem Kamin niedergelassen, Joyce und John auf dem einen unbequemen Sofa, Lydia auf dem anderen. Ihre Tante saß mit kerzengeradem Rücken da, die Knie aneinandergedrückt, die Beine leicht seitlich weggestreckt, wie ein Bild aus einer Benimmzeitschrift. Sie schaute John mit offenem Abscheu an.
Er wusste, dass er beschissen aussah. Um fünf Uhr an diesem Morgen hatte Ms. Lam an seine Tür geklopft, ihm das Urinröhrchen gegeben und dann angefangen, sein Zimmer zu durchsuchen. Als er von der Toilette zurückkam, hielt sie das Foto seiner Mutter in den Händen. Er stand mit seiner eigenen Pisse in der Hand da und spürte eine stumme Scham in sich brennen. Das war eine weitere Demütigung, die er Emily zufügte. Wann würde das endlich aufhören? Wann würde seine Mutter endlich in Frieden ruhen dürfen?
»Wir sind wegen Michael hier«, sagte Joyce.
»Er war mein Sohn«, entgegnete Lydia, als wäre das so einfach.
Joyce versteifte sich, aber John schüttelte den Kopf, bat sie wortlos um Geduld. Er liebte seine Schwester, aber sie lebte in einer schwarz-weißen Welt. Mit Grautönen konnte sie nicht so recht umgehen.
John sagte zu Lydia: »Das kleine Mädchen, das er entführt hatte, wird es überleben.«
»Nun ja«, entgegnete sie und tat das Thema mit einem knappen Heben ihrer schmalen Schultern ab. John wartete, aber sie fragte nicht nach Angie Polaski, schien nicht interessiert zu sein am Zustand des letzten Opfers ihres Sohnes. Im Grunde genommen schien sie an überhaupt nichts interessiert zu sein.
John räusperte sich. »Könntest du einfach...« »Er hasste dich, weißt du.«
Das hatte John sich schon
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