Will Trent 01 - Verstummt
gedacht, aber er musste es genau wissen. »Warum?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie und strich sich den Rock mit der Hand glatt. Sie hatte einen großen Diamantring am Finger, der goldene Reif war mehr als einen Zentimeter breit. »Er schien ziemlich besessen von dir zu sein. Er hatte ein Sammelalbum.« Sie stand unvermittelt auf. »Ich hole es.«
Als sie das Zimmer verließ, glitten ihre Slipper lautlos über den weißen Teppich.
Joyce stieß Luft durch die Zähne aus.
»Beruhige dich«, sagte John. »Sie muss das nicht tun.«
»Sie hält dein Leben in ihren Händen.«
»Ich weiß«, sagte John, aber er war es gewohnt, dass andere Menschen sein Leben kontrollierten, ob es nun sein Vater war oder Michael, die Gefängniswärter oder Martha Lam. In seinem gesamten Erwachsenenleben hatte es noch keinen Tag gegeben, an dem er nicht versucht hätte, jemanden bei Laune zu halten.
Joyces Augen füllten sich mit Tränen. Er hatte ganz vergessen, was für eine Heulsuse sie war. »Ich hasse sie, John. Ich hasse sie so sehr. Wie kannst du es nur ertragen, im selben Zimmer mit ihr zu sein.«
Mit den Fingerrücken wischte er ihre Tränen weg. »Wir brauchen etwas von ihr. Aber sie braucht nichts von uns.«
Lydia kehrte mit einem großen Fotoalbum zurück, das sie sich an die Brust drückte. Sie legte es auf den ledernen Hocker zwischen den Couchen und setzte sich wieder.
John sah ein Foto von sich selbst, das auf den Einband des Albums geklebt war. Zumindest vermutete er, dass es ein Foto von ihm war. Das Gesicht war mit Tintenstift überkritzelt.
»Mein Gott«, murmelte Joyce und zog das Album zu sich her. Sie schlug die erste Seite auf, dann die zweite. John schaute ihr dabei über die Schulter. Sie waren beide sprachlos, als sie Fotos von John aus der Junior Highschool sahen - Klassenfotos, Fotos vom Team, John im Trainingsanzug. Michael hatte Johns ganzes Teenagerleben dokumentiert.
»Es war Barry, der alles noch schlimmer machte«, erklärte Lydia. Onkel Barry, ihr Ehemann, der Bruder von Emily. »Barry sprach die ganze Zeit nur von dir, führte dich als Beispiel an.«
»Als Beispiel wofür?«, fragte Joyce, die offensichtlich entsetzt über das Album war.
»Nachdem sein Vater weggegangen war, geriet Michael auf die schiefe Bahn. Er hatte Probleme in der Schule. Die Drogen... na ja, ich weiß auch nicht. Es gab da in der Schule einen älteren Jungen, der bei ihm das Interesse für die falschen Dinge weckte. Aus eigenem Antrieb hätte Michael so etwas nie getan.«
Joyce öffnete den Mund, aber John drückte ihre Hand, damit sie schwieg. Von jemandem wie Lydia Ormewood bekam man nicht, was man wollte, indem man ihr sagte, was sie tun solle. Man kam mit dem Hut in der Hand und wartete. John hatte dies sein ganzes Leben lang getan. Er wusste, dass ein falsches Wort alles zunichtemachen konnte.
Lydia fuhr fort: »Barry glaubte, du wärst ein gutes Vorbild für Michael. Du warst immer so gut in der Schule.« Sie seufzte. »Michael war kein schlechter Junge. Er ist nur in die falschen Kreise geraten.«
John nickte, als würde er es verstehen. Vielleicht tat er es bis zu einem gewissen Grad sogar. Auch John hatte sich von Michaels Kreisen beeinflussen lassen. Aleesha Monroe ebenfalls. Sie hatte die ganze Zeit bei Michael zu Hause herumgehangen, war sogar am Abend der Party dort gewesen. Ihre Eltern waren anständige Leute, und ihre Geschwister hatten immer zu den Klassenbesten gehört. Hätte John so geendet wie Aleesha, wenn Mary Alice nicht gestorben wäre? Wäre sein Leben so vergeudet gewesen wie ihres?
Lydias Brust hob und senkte sich, als sie erneut seufzte. »Ich habe ihn dazu gebracht, zum Militär zu gehen«, erzählte sie. »Ich wollte nicht, dass er nur so herumsitzt, nachdem du weg warst. Er kämpfte im Krieg. Er wollte diesen arabischen Menschen die Sicherheit zurückgeben und wurde dafür ins Bein geschossen.«
Joyce war so angespannt, dass John es spüren konnte.
Lydia klaubte sich eine Staubfluse vom Rock. »Und dann kam er nach Atlanta zurück, schuf sich ein Heim, gründete eine Familie.« Sie sah Joyce an. »Dieses Mädchen, das er heiratete, mit dem stimmte offensichtlich irgendwas nicht. Tim war nicht Michaels Schuld.« Sie sagte das mit Nachdruck, und John ließ seinen Blick erneut durchs Zimmer wandern, um nach Fotos von Michael oder seinem Sohn zu suchen. Der Kaminssims war leer bis auf eine Glasvase mit Seidenblumen. Auf dem nüchternen Metalltisch an der Rückwand befand sich
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