Will Trent 01 - Verstummt
diese Verwandlung ihm einbrachte. Dank Woody war er der Junge, der den Stoff besaß. Er war derjenige, der wusste, wo die coolen Partys stiegen, wo auch minderjährige Highschocler willkommen waren, wenn sie nur hübsche Mädchen mitbrachten. Als er fünfzehn war, dealte er bereits. Bei einer Familienfeier bekam er von Woody seine erste Linie Koks, und danach gab es kein Zurück mehr.
Mit siebzehn war er ein verurteilter Mörder.
Soweit John sich erinnern konnte, war Mary Alice Finney der erste Mensch, mit dem er befreundet war, der nicht zur engeren Familie gehörte. Ihre Mütter hatten sich zusammengetan und im wöchentlichen Wechsel die Kinder zur Schule gefahren. Die beiden hatten auf dem Rücksitz gesessen und alberne Spielchen gespielt, damit die Zeit schneller verging. In der Grundschule war ihr Leben noch ziemlich parallel verlaufen. Sie waren die klugen Kinder, diejenigen, die alle Vorteile hatten. Aber in der Junior High wurde dann alles anders. Onkel Barry war tot. John wurde der Anführer der falschen Gruppe.
»Du hast dich verändert«, sagte Mary Alice, als er sie eines Tages vor der Mädchenumkleidekabine zur Rede stellte. Sie hielt ihre Schulbücher an die Brust gedrückt, deckte die Front ihres T-Shirts von einem Police-Konzert damit ab, als müsste sie sich schützen. »Ich glaube, ich mag die Person nicht, die zu werden du dir jetzt ausgesucht hast.«
Zu werden ausgesucht. Als hätte er eine andere Wahl. Er hatte sich seinen strengen, barschen Vater nicht ausgesucht und auch seine oberflächliche Mutter nicht, die Erfinderin der rosa Brille. Er hatte sich Joyce nicht ausgesucht, seine perfekte Schwester, die blöde Kuh, die die Latte so hoch legte, dass er es nie ihm Leben darüberschaffen würde.
Hatte er sich das ausgesucht? Er hatte nicht die geringste Chance gehabt.
»Fick dich«, sagte er zu Mary Alice.
»Hätt'ste wohl gern«, blaffte sie, fuhr sich mit Schwung durch die Haare, drehte sich um und ließ ihn stehen wie einen Idioten.
An diesem Abend hatte er sich im Spiegel betrachtet, die langen, fettigen Haare, die dunklen Ringe unter den Augen, die Aknepickel auf Stirn und Wangen. Sein Körper hatte seine riesigen Hände und Füße noch nicht ganz eingeholt. Auch im Sonntagsanzug sah er aus wie eine Bohnenstange auf zwei Pappkartons. In der Schule war er ein Außenseiter, im reifen Alter von fünfzehn Jahren hatte er keine wirklichen Freunde mehr, und seine bisherigen sexuellen Erfahrungen beschränkten sich auf die Handlotion seiner Schwester und eine lebhafte Phantasie. Nach diesem Blick in den Spiegel schlich er in den Schuppen im Hinterhof und zog sich so viel Koks in die Nase, dass ihm schlecht wurde.
Von diesem Tag an hasste John Mary Alice Finney. An allem Schlechten in seinem Leben war sie schuld. Er verbreitete Gerüchte über sie. Er machte Witze auf ihre Kosten und in ihrer Hörweite, damit sie nur ja mitbekam, wie sehr er sie verachtete. Wenn sie mit ihren Cheergirls in der Turnhalle auftrat, piesackte er sie mit Zwischenrufen. Manchmal lag er nachts wach im Bett und dachte an sie, verachtete sie, und merkte dann, dass seine Hand, die eben noch flach auf dem Bauch gelegen hatte, nach unten in seine Shorts gewandert war; und dann brauchte er sich nur vorzustellen, wie sie an diesem Tag in der Schule gewesen war, wie sie anderen auf dem Gang zugelächelt hatte, den engen Pullover, den sie getragen hatte, und schon kam es ihm.
»John?« Seine Mutter schien den sechsten Sinn zu haben, denn sie klopfte immer dann an seine Zimmertür, wenn er sich gerade einen herunterholte. »Wir müssen reden.«
Emily wollte mit ihm über seine immer schlechter werdenden Noten reden, seinen letzten Arrest, über etwas, das sie in seiner Jeanstasche gefunden hatte. Sie wollte mit dem Fremden reden, der ihren Sohn gekidnappt hatte, ihn bitten, ihr ihren Johnny zurückzugeben. Sie wusste, dass ihr Baby irgendwo da drinnen war, und sie würde nie aufgeben. Sogar beim Prozess hatte er ihre stumme Unterstützung gespürt, als er an diesem Tisch saß, sich anhören
musste, wie der Staatsanwalt ihn Abschaum nannte, vor sich eine Bank mit Geschworenen, die ihm nicht einmal in die Augen schauen konnten.
Der einzige Mensch in diesem Gerichtssaal, der noch an John Shelley glaubte, war seine Mutter. Sie wollte diesen Jungen nicht loslassen, diesen kleinen Pfadfinder, diesen Modellflugzeugbauer, dieses kostbare Kind. Sie wollte ihre Arme um ihn legen und alles wiedergutmachen, wollte ihr Gesicht in
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