Will Trent 01 - Verstummt
ein Kunde einem Kollegen ein Trinkgeld gab. Hier traute niemand dem anderen, und das aus gutem Grund. Man brauchte keinen Collegeabschluss, um herauszufinden, warum ein Haufen Typen mittleren Alters für minimalen Lohn plus Trinkgeld im Gorilla Car Wash arbeitete.
Art kam aus dem Büro, rief: »Erste Schicht, Mittagspause!«, und ging dann zu dem Bullen, der am Verkaufsautomaten stand. Scheiße, auch das hatte John nicht bemerkt. Der Bulle war wieder nach draußen gekommen und hatte ihn beobachtet, und er hatte nichts davon mitgekriegt.
Mit gesenktem Kopf ging John nach hinten, stempelte aus und holte sich sein Mittagessen vom Regal. Im Kühlschrank stand eine Dose Limo, aber zurückgehen würde er jetzt auf keinen Fall, erst wenn der Bulle wieder verschwunden war und Art hinter seinem Schreibtisch saß und das Geld zählte.
Chico, ein anderer Kollege, hockte auf dem Betonmäuerchen im Schatten eines großen Magnolienbaums, der in dem schmalen Grasstreifen hinter der Waschanlage wuchs. John saß gern unter dem Baum, er genoss das Alleinsein und den Schatten, aber an diesem Tag war Chico ihm zuvorgekommen. So etwas wäre im Knast nicht passiert. Einem Mann seinen Platz wegzunehmen war, als würde man seine Schwester in den Arsch ficken. Dort drinnen passierte nichts, das nicht auch einen Preis hatte.
»Wie geht's?«, fragte John und nickte Chico zu, als er an ihm vorbei zu dem Carport ging, der als Verkaufskiosk fungierte. Die Leute vom Kiosk gingen zum Mittagessen aus. Sie verdienten genug Geld, um sich diesen Luxus leisten zu können.
John setzte sich unter der Markise auf den Boden. Er nahm seine Baseballkappe ab und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Früher hatte November fiesen Winter bedeutet, inzwischen musste man schon froh sein, wenn man in der Jacke, die man in der Früh angezogen hatte, mittags nicht schwitzte.
Verdammt, sogar das Wetter hatte sich verändert.
Er sah sich um, bevor er ein Blatt Papier aus der hinteren Hosentasche zog. Die Kreditauskunft. Ein Teil von ihm hätte sie gestern Abend am liebsten wieder in den Müllbeutel gesteckt, sich nicht weiter darum gekümmert. Irgendein Arschloch gab sich also für ihn aus. Was bedeutete das für John Shelley? Offensichtlich zog der Kerl nicht irgendeine Show ab. Warum sollte er sonst sechs Jahre lang jeden Monat die Kreditkartengebühren bezahlen? John hatte im Gefängnis von allen möglichen Tricks gehört, und obwohl er noch nie wirklich Zugang zu einem Computer gehabt hatte, wusste er, dass das Internet die beste Möglichkeit war, in eine neue Identität zu schlüpfen. Aber das da, das war nichts in der Richtung. Man nahm das Geld und machte sich aus dem Staub. Man blieb nicht auf seinem Arsch sitzen und zahlte pünktlich die monatlichen Gebühren. Es war wie diese alte Masche, dass man fünfzig Pizzas an irgendeine fremde Adresse bestellt, nur dass man dafür mit seiner eigenen Kreditkarte bezahlte.
Er faltete das Blatt zusammen und steckte es wieder in die Tasche. Er sollte das Ganze sein lassen. Es würde nichts Gutes dabei herauskommen. John sollte sich strikt an das halten, was seine Bewährungshelferin ihm gesagt hatte: Konzentriere dich darauf, dein Leben neu aufzubauen. Such dir einen festen Job. Zeig den Leuten, dass du dich verändert hast.
Aber es ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Wie an einem Schiefer, der sich einfach nicht aus der Haut lösen will, hatte er die ganze Nacht daran gezupft und gezerrt und versucht herauszufinden, was das bedeuten könne. Warum würde irgendjemand das tun? Vielleicht benutzte jemand mit einer Vergangenheit Johns Personendaten als Deckung. Vielleicht war ein Axtmörder oder irgendeine arme Sau, die Pech gehabt hatte, auf der Flucht, und John Shelley erschien demjenigen als gute Tarnung.
Er lachte über diesen Gedanken und biss ein Stück von seinem Erdnussbutter-und-Bananen-Sandwich ab. Man musste schon ziemlich verzweifelt sein, um die Identität eines verurteilten Mörders und registrierten Sexualstraftäters anzunehmen.
Die Erdnussbutter blieb ihm am Gaumen kleben, und er hustete ein paarmal, bevor er zu dem am Boden liegenden zusammengerollten Schlauch ging. John drehte die Spritze auf, trank einen Schluck und beobachtete dabei Ray-Ray, der bei den Staubsaugern mit einer Frau sprach. John sah, dass der andere Mann seine übliche Masche abzog, versuchte, seinen Charme auf die Frau wirken zu lassen. Ihrer Kleidung nach zu urteilen, hätte Ray-Ray sich die Zeit sparen und
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