Will Trent 01 - Verstummt
Rede zu stellen - die Achseln zucken. Er zuckte die Achseln so oft, dass sein Vater schon sagte, er müsse eine neurologische Störung haben. Vielleicht sollte man ihm Lithium verschreiben oder ihn in einer Nervenklinik unterbringen.
»Wie hat das alles angefangen?«, wollte seine Mutter wissen. Es musste doch einen Weg geben, wie sie das korrigieren, wie sie alles wieder zum Besseren wenden konnte. »Wer hat dich dazu angestiftet? Sag mir, wer dir das angetan hat!«
Von John nur ein Achselzucken. Eine sarkastische Bemerkung von seinem Vater. »Bist du jetzt zurückgeblieben? Autistisch? Ist es das, was nicht stimmt mit dir?«
Angefangen hatte es mit Gras. Es gab schließlich einen Grund, warum Nancy Reagan die Kinder ermahnte, einfach Nein zu sagen. Johns erste Dröhnung passierte - passenderweise - direkt nach einer Beerdigung.
Emilys Bruder Barry war bei einem Unfall auf der Autobahn ums Leben gekommen. Unvermittelt. Unheilvoll. Lebensverändernd. Barry war ein großer, kräftiger Kerl, der aß, worauf er gerade Lust hatte, und Zigarren rauchte, als wäre er Fidel Castro. Er nahm Tabletten gegen hohen Blutdruck, musste sich täglich Insulin gegen seinen Diabetes spritzen und arbeitete sich
ganz allgemein langsam, aber sicher aufs Grab zu. Dass er von einem am Steuer eingeschlafenen Lastwagenfahrer getötet wurde, war schon beinahe ein Witz.
Das Begräbnis fand an einem heißen Frühlingsvormittag statt. In der Kirche war John neben seinem Cousin Woody hinter dem Sarg hergegangen. Er hatte noch nie einen anderen Jungen weinen sehen, und John kam sich komisch vor, als sein taffer Cousin, der vier Jahre älter war als er und cooler, als John es sich je erträumen konnte, vor seinen Augen zusammenbrach. Barry war nicht einmal der richtige Vater des Typen gewesen. Woodys Mutter war geschieden - in diesen Tagen ein ziemlich schockierender Vorfall - und nur zwei Jahre mit Barry verheiratet gewesen. John war nicht einmal sicher, ob Woody überhaupt sein Cousin war.
»Komm mit«, hatte Woody gesagt. Sie waren wieder in seinem Haus, das ohne Onkel Barry jetzt so leer wirkte. Sein Onkel war ein geselliger Mensch gewesen, immer aufgelegt zu einem Witz oder einem Kichern zur rechten Zeit, um eine Situation zu entspannen. Johns Vater mochte ihn nicht sehr, und John vermutete, dass das vorwiegend Snobismus war, denn Barry verkaufte Anhänger für Traktoren. Er verdiente gut dabei, aber für Richard war das gleichbedeutend mit Gebrauchtwagen verhökern.
»Komm schon«, sagte Woody zu John und stieg die Treppe zu den Schlafzimmern hinauf.
John schaute sich nach seinen Eltern um, ohne Grund eigentlich, außer dass Woodys Tonfall ihm bedeutete, dass gleich etwas Schlimmes passieren würde.
Trotzdem folgte er ihm in sein Zimmer, schloss sogar die Tür ab, als Woody ihn dazu aufforderte.
»Scheiße«, seufzte Woody und ließ sich in den Knautschsessel auf dem Boden fallen. Hinter einigen Büchern auf dem Regal zog er eine Plastiktüte hervor und unter der Matratze ein Päckchen Zigarettenpapier. John beobachtete, wie er geschickt einen Joint drehte.
Als Woody bemerkte, dass er ihm zusah, sagte er: »Ich brauch jetzt ein Tütchen, Mann. Was ist mit dir?«
John hatte noch nie eine Zigarette geraucht, nie etwas Stärkeres als Hustensaft genommen - den Mutter in ihrem Badezimmer unter Verschluss hielt, als wäre er radioaktiv -, doch als Woody ihm den Joint anbot, sagte er nur: »Cool.«
Er verfolgte genau, wie sein Cousin den Rauch in die Lungen zog und ihn dort behielt, denn er wollte nichts falsch machen. Johns Oberlippe war schweißnass, als Woody ihm den Joint reichte. Er hatte mehr Angst davor, sich vor seinem Cousin zu blamieren, als dass er etwas Illegales tat.
John liebte die Entspannung, die auf das Rauchen eines Joints folgte, die Art, wie er allem die Spitze nahm. Es war ihm dann egal, dass sein Vater ihn für einen totalen Versager hielt oder seine Mutter dauernd von ihm enttäuscht war. Der Perfektionismus seiner Schwester Joyce, mit dem sie in die Fußstapfen ihres Vaters trat, nagte nach einem Tütchen nicht mehr an ihm, und eigentlich genoss er das Zusammensein mit seiner Familie sogar eher, wenn er high war.
Als seine Eltern dann endlich dahinterkamen, was los war, gaben sie dem ewigen Übeltäter die Schuld: dem schlechten Umgang. Dabei übersahen sie jedoch, dass John Shelley der schlechte Umgang war. In wenigen Wochen war aus dem naiven Trottel ein Kiffer geworden, und er liebte die Aufmerksamkeit, die
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