Will Trent 01 - Verstummt
mitgebracht«, sagte sie und deutete auf die Schulbücher, die neben ihr auf dem Tisch lagen. Mathematik und Naturwissenschaften, seine Lieblingsfächer damals, als ihm die Schule noch gefiel.
Und sie sagte: »Du kannst noch immer deinen Abschluss machen.«
John starrte sie verständnislos an. Er trug eine Windel, die den Eiter auffing, der ihm noch immer aus dem Arsch lief, und seine Mutter machte sich Gedanken über seinen Highschoolabschluss.
Sie sagte: »Du wirst aufs College gehen müssen, wenn du rauskommst.«
Bildung. Emily hatte immer darauf bestanden, dass Bildung das Einzige sei, was das Leben wirklich bereicherte. So weit er zurückdenken konnte, hatte seine Mutter immer ein Buch, das sie gerade las, irgendeinen Artikel, den sie aus einer Zeitung oder einer Zeitschrift ausgeschnitten hatte, weil sie ihn interessant fand und nicht vergessen wollte.
»Hörst du mir zu, Jonathan?«
Er konnte nicht einmal nicken.
»Du machst deinen Schulabschluss, und dann gehst du aufs College, okay?« Sie nahm seine Hände in die ihren. Seine Handgelenke wiesen noch immer Verfärbungen auf, da, wo die Männer ihn festgehalten hatten. Eine der Wachen machte einen Schritt auf sie zu, trennte sie aber nicht.
»Du wirst hier drinnen nicht aufgeben«, sagte sie und verstärkte den Druck ihrer Hände, als könnte sie etwas von ihrer Kraft in ihn hineinzwingen, ihm den Schmerz nehmen und ihn selbst tragen. Sie hatte immer gesagt, sie würde lieber selbst leiden, als zusehen müssen, dass ihren Kindern etwas passierte, und nun wurde John zum ersten Mal bewusst, dass das wirklich stimmte. Wenn Emily könnte, würde sie sofort mit ihm tauschen. Und er würde es zulassen.
»Verstehst du mich, Jonathan? Du wirst hier drinnen nicht aufgeben.«
Seit viereinhalb Wochen hatte er mit niemandem gesprochen. Der Geschmack seiner eigenen Scheiße und der anderer Männer klebte ihm noch immer in der Kehle. Er hatte Angst, den Mund aufzumachen, Angst, dass seine Mutter es an ihm roch und wusste, was er getan hatte.
»Sag's mir, John«, beharrte sie. »Sag mir, dass du das für mich tun wirst.«
Seine Lippen klebten zusammen, sie waren aufgesprungen und blutig. Er starrte seine Hände an. »Ja.«
Zwei Wochen später fragte sie ihn, ob er gelernt habe. Er log und sagte, ja. Zu der Zeit teilte John sich schon eine Zelle mit Ben und schlief in der Nacht nicht, weil er Angst hatte, dass der ältere Mann nur den richtigen Zeitpunkt abwartete, ein wenig mit ihm spielte, bis er schließlich zuschlug.
»Süßer«, hatte Ben jedoch gemeint. »Du schmeichelst dir selber, wenn du glaubst, dass du mein Typ bist.«
Rückblickend betrachtet, muss man allerdings sagen, dass John durchaus sein Typ war: jung, dunkelhaarig, schlank, hetero. Doch Ben hatte diese Grenze nie überschritten, und nur zweimal hatte John ihn wirklich wütend gesehen. Das zweite Mal geschah an dem Tag, an dem die Flugzeuge ins Pentagon und die World-Trade-Türme flogen. Danach war Ben einige Tag lang so fuchsteufelswild gewesen, dass er kein Wort herausbrachte. Zum ersten Mal zeigte er seinen Zorn, als er John mit Drogen erwischte.
»Das wirst du nicht tun, Junge«, hatte Ben befohlen und dabei Johns Handgelenk so fest umklammert, dass er glaubte, er würde ihm die Knochen brechen, »Hast du mich verstanden?«
John sah ihm in die Augen und wusste, dass der letzte Mann, der Ben Carver so wütend erlebt hatte, nackt und mit dem Gesicht nach unten in einem flachen Tümpel vor einer verlassenen Kirche gefunden worden war.
»Ich lasse sie dann nämlich auf dich los, Sohn. Wie eine Horde Schakale. Hast du mich verstanden?«
Der Schutzhafttrakt hatte zehn Zellen mit je zwei Insassen. Sechs davon waren Pädophile. Zwei mochten Mädchen, vier hatten es auf kleine Jungs abgesehen. Nachts konnte John sie wichsen hören und seinen Namen flüstern, wenn sie kamen.
»Ja, Sir«, hatte John geantwortet. »Ich verspreche es.«
Der Rest der Straftäter in dem Trakt waren wie Ben. Draußen lauerten sie Erwachsenen auf, und unter ihnen fühlte John sich ziemlich sicher. Aber Sex war Sex, und hier drinnen nahm man sich jeden frischen Arsch, wenn man ihn bekam. Später hatte er
von Ben erfahren, dass sie ihm alle zu unterschiedlichen Zeiten diverse Tauschangebote für ihn gemacht hatten. Die Gefängnisetikette verlangte, dass Ben als Zellengenosse das Vorrecht hatte. Doch als die Zeit verging und Ben sich nicht nahm, was ihm zustand, wurden einige der Jungs nervös, aber jeder Einzelne von
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