Will Trent 01 - Verstummt
Richard vor ihm stand.
»Dad?«
Bei diesem Wort presste Richard angewidert die Lippen zusammen.
John hatte ihn fast nicht mehr erkannt. Richards Haare waren inzwischen schlohweiß, aber noch immer dicht und kräftig, und bildeten einen starken Kontrast zu seinem gebräunten Gesicht. Er wirkte nach wie vor körperlich sehr fit. Richard betrachtete Fettleibigkeit als ein Zeichen von Trägheit, und er war ein Gesundheitsfanatiker, lange bevor es zu einer nationalen Obsession wurde.
Ein Jahr nach Johns Verurteilung hatte Emily sich von Richard scheiden lassen, aber sie lebten schon seit dem Tag von Johns Verhaftung nicht mehr im selben Haus. Richard erschien nicht zum Prozess, zahlte keinen Cent für die Verteidigung seines Sohns, weigerte sich, zu seinen Gunsten auszusagen.
»Jetzt hast du es endlich geschafft«, sagte er, ohne Platz zu nehmen. Er ragte drohend über ihm auf. »Deine Mutter hat
Brustkrebs im letzten Stadium. Jetzt hast du endlich auch sie umgebracht.«
Eine Woche später saß John vor dem Begnadigungsausschuss, nahm mit den einzelnen Mitgliedern abwechselnd Blickkontakt auf und erzählte ihnen, wie er nun endlich zu der Erkenntnis gelangt sei, dass er niemandem außer sich selbst die Schuld für seinen Gefängnisaufenthalt geben dürfe. Er habe Mary Alice Finney gehasst. Er sei neidisch gewesen auf ihre Beliebtheit, ihre Freunde, ihren Status. Er sei drogenabhängig gewesen, aber das sei keine Entschuldigung. Das Koks habe nur seine Hemmschwelle gesenkt, seine Fähigkeit gemindert, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden. In der Nacht der Party sei er ihr nach Hause gefolgt, in ihr Schlafzimmer eingedrungen und habe sie brutal vergewaltigt. Als dann die Wirkung des Koks nachließ, habe er erkannt, was er getan hatte, und sie kaltblütig getötet und ihren Körper verstümmelt, um es so aussehen zu lassen, als hätte ein psychopathischer Killer sie ermordet.
Seine Gefangenenakte war erstaunlich sauber. John war ein Mustergefangener gewesen mit nur zwei Regelverstößen in seiner Akte, die über zehn Jahre zurücklagen. Er hatte jeden Kurs besucht, der im Gefängnis angeboten wurde, etwa über Auswirkungen auf das Opfer, Gewalt in der Familie, korrigierendes Denken, das posttraumatische Belastungssyndrom, Kernfragen des Lebens, kommunikative Fähigkeiten, Wutbewältigung, über Depression, Konzentration und Stresskontrolle. Er hatte seinen Highschoolabschluss und einen Bachelor gemacht und bereitete sich eben auf seinen Master vor, als eine Änderung des 1994 Crime Bill staatliche Ausbildungsbeihilfen für Gefangene verbot. Er arbeitete freiwillig im Gefängniskrankenhaus, wo er anderen Gefangenen Wiederbelebungstechniken und Grundbegriffe der Hygiene beibrachte. Er hatte eine praktische Ausbildung in Gartenbau und Kochen absolviert. In einem von John verfassten Brief, der seiner Akte beigefügt war, stand, dass seine Mutter krank sei und er einfach nur nach Hause wolle, um für sie da zu sein, wie sie die ganzen Jahre für ihn da gewesen war.
Die offizielle Begnadigungsbescheinigung kam am 22. Juli 2005.
Zwei Tage zuvor war Emily gestorben.
Kapitel 17
6. Januar 2006
Cousin Woody. Der Coole, der Beliebte. Er besaß eine Hantelbank in der Garage und verbrachte seine Tage mit Training und Grasrauchen. Er hatte eine muskulöse Brust und einen Waschbrettbauch mit einem Streifen Haare in der Mitte, der bis zu seinem Geschlechtsteil reichte. Mädchen umschwärmten ihn wie Motten das Licht. Er fuhr einen brandneuen, silbernen Mustang mit Schrägheck. Er brachte die Jungs in der Schule dazu, einen Teil seines Stoffs zu verkaufen, so dass er immer über Geld verfügte, das ein Loch in seine Hosentasche brannte. Seine verwitwete Mutter war auf ihre Karriere in ihrer Anwaltskanzlei konzentriert und arbeitete immer bis spätabends, so dass ihr Sohn oft allein war. Mr. »Komm doch hoch«, Mr. »Wülste 'nen Joint«, Mr. »Zieh's dir einfach in die Nase«. Der coole Cousin Woody.
John verfolgte Woody nun schon fast zwei Monate lang. Den Fairlane stellte er am Parkplatz des Inman-Park-MARTA-Busbahnhofs ab, weil Benzin zu teuer war, als dass er das Auto für irgendetwas außer fürs Geschäft hätte benutzen können. Genau so sah John die Sache: als ein Geschäft. Er war der Hauptgeschäftsführer der Firma »Halt John aus dem Gefängnis draußen«. Ihr verdammter Finanzchef, der Vizepräsident, die Sekretärin, alles in einer Person.
Von Anfang an hatte Woody es John ziemlich leicht gemacht, ihn zu
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