Will Trent 01 - Verstummt
ihnen, vom Babyvergewaltiger bis zum Kindermörder, hatte Angst vor Ben. Sie alle hielten ihn für einen perversen Bastard.
In diesen ersten Jahren im Gefängnis kreuzte John jeden Tag in seinem Kalender mit einem großen X aus und zählte die Tage bis zu seiner Entlassung. Tante Lydia arbeitete an seinem Fall und versuchte jede Möglichkeit auszuschöpfen, um ihn herauszuholen. Doch Einspruch um Einspruch wurde abgewiesen. Dann eines Tages erschienen Tante Lydia und Emily und teilten ihm mit, dass der Oberste Gerichtshof von Georgia eine Anhörung seines Falls verweigert hatte. Lydia war seine Heldin gewesen, die einzige Person außer seiner Mutter, die darauf bestanden hatte, dass er die Sache vor Gericht ausfechte und nicht in die Verfahrensabsprache einwillige, die der Staat anbot.
Ihr Gesichtsausdruck sagte alles. Es war das Ende der Fahnenstange. Andere Möglichkeiten gab es nicht mehr.
Das Angebot des Staates hatte auf fünfzehn Jahre ohne Begnadigungsmöglichkeit gelautet. Lydia hatte ihm geraten, es nicht anzunehmen, weil sie mit all ihren Kräften für den Beweis seiner Unschuld kämpfen wolle. Jetzt hatte er zweiundzwanzig bis lebenslänglich vor sich.
Tante Lydia schluchzte herzzerreißend. Schließlich war John es, der sie tröstete, der versuchte, sie mit Worten zu beruhigen und von dem Schuldgefühl zu befreien, weil sie es nicht geschafft hatte, ihn zu retten.
»Ist schon okay«, sagte er zu Lydia. »Du hast dein Bestes getan. Ich bin dir sehr dankbar dafür.«
Als John danach in seine Zelle zurückkehrte, las er in seiner jüngsten Ausgabe von Populär Mechanics. Er weinte nicht.
Was hätte es auch gebracht? Seine Gefühle zeigen, damit irgendein Vergewaltiger sich an seinem Schmerz weiden und sich einen runterholen konnte? Nein. John hatte sich inzwischen eine harte Schale zugelegt. Ben hatte ihm die Tricks und Kniffe beigebracht, wie man es im Gefängnis schaffte, nicht abgestochen oder zu Tode geprügelt zu werden. Er blieb für sich, schaute keinem in die Augen und sprach außer mit Ben nur selten mit jemandem.
Eins hatte John im Gefängnis auch noch gelernt, dass er nämlich intelligent war. Diese Erkenntnis basierte nicht auf Eitelkeit, es war eher eine Art Grabschrift, ein Nachruf auf die Person, die er hätte werden können. Er verstand komplizierte Formeln, mathematische Gleichungen. Lernen machte ihm Spaß. Manchmal konnte er richtig spüren, wie sein Gehirn in seinem Schädel wuchs, und wenn er ein Problem gelöst, ein besonders schwieriges
Diagramm begriffen hatte, kam er sich vor, als hätte er einen Marathon gewonnen.
Und dann setzten die Depressionen ein. Sein Vater hatte recht gehabt. Seine Lehrer hatten recht gehabt. Sein Pastor hatte recht gehabt. Er hätte sich mehr anstrengen müssen. Er hätte sein Hirn einsetzen müssen - oder können -, um etwas aus seinem Leben zu machen. Was hatte er jetzt? Wen interessierte es, dass man der intelligenteste verurteilte Mörder im Gefängnis war?
Es gab Nächte, da lag John wach auf seiner Pritsche und dachte an seinen Vater, wie angewidert Richard gewesen war, als er seinen Sohn dieses eine Mal besuchte. In seiner Zeit im Gefängnis lernte John auch noch einige andere Dinge über das Leben. So schrecklich Richard auch gewesen war, hatte er doch John nie so verletzt, wie einige seiner Mitgefangenen verletzt worden waren. Sein Vater mochte sich gedankenlos verhalten haben, aber er war nie grausam. Er hatte ihn nie so verprügelt, dass ein Lungenflügel kollabierte. Er hatte seinem Sohn nie eine Waffe an den Kopf gehalten und ihn vor die Wahl gestellt: sich von einem alten Sack einen blasen zu lassen, damit Dad sich eine Tüte Gras besorgen konnte, oder lieber eine Kugel in den Kopf zu bekommen.
Jahre vergingen, und John stellte fest, dass er sich angepasst hatte. Er konnte es im Gefängnis aushalten. Die Tage zogen sich zwar endlos hin, aber er hatte die Geduld gelernt, die Belastungsfähigkeit erworben, die man brauchte, um schwierige Zeiten durchzustehen. Die erste Chance auf eine Begnadigung bekam er in seinem zehnten Jahr im Knast und danach alle zwei Jahre wieder. Eine Woche vor seiner sechsten Anhörung vor dem Begnadigungsausschuss und anderthalb Jahre vor Beendigung seiner zweiundzwanzigjährigen Strafe stattete Richard seinem Sohn zum zweiten und letzten Mal im Gefängnis einen Besuch ab.
John hatte Emily im Besuchersaal erwartet; er starrte den Metalldetektor an und wartete darauf, dass sie durchkam, als plötzlich
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