Will Trent 01 - Verstummt
beschatten. Er war schon immer ein Gewohnheitstier gewesen, und das hatte sich in seinem Erwachsenenleben nicht geändert. John konnte seine Uhr nach dem Kerl stellen. Er ging jeden Tag zur Arbeit, kam danach sofort nach Hause, küsste die Frau, wenn sie daheim war, deckte seinen Sohn zu und setzte sich dann für den Rest des Abends vor den Fernseher. In der ersten Woche tat er dies jeden Abend, und John befürchtete schon, er würde nur seine Zeit verschwenden - bis der Sonntag kam. Der Junge war nicht da - die Frau hatte ihn von der Kirche nicht mehr mit nach Hause gebracht, und John vermutete, dass sie ihn bei einem Verwandten abgeliefert hatte. Die Frau verließ gegen sechs in Arbeitskleidung das Haus, so dass Woody den ganzen Abend für sich hatte.
Woody wartete nach ihrem Weggang noch etwa dreißig Minuten, setzte sich dann in sein Auto und fuhr weg. Wochenlang ging das so, einen Monat, dann
noch einen. Jeden Sonntagabend setzte sich Woody mit der Präzision eines Uhrwerks in sein Auto.
Mit der Zeit hatte John ziemlich gut gelernt, auf Distanz zu bleiben, so dass Woody gar nicht mitbekam, dass der Fairlane seinem Auto folgte. Wobei Woody nur Augen für die Frauen, die die Straßen in der Innenstadt Atlantas säumten, zu haben schien. Er hielt irgendwo an, winkte eine zu sich und fuhr mit ihr in eine Gasse, einen Park oder eine verlassene Nebenstraße. John beobachtete dann, wie der Kopf der Frau verschwand und nach ein paar Minuten wieder hochkam. Danach stieg sie aus, und Woody fuhr weiter und saß eine Stunde später wieder vor dem Fernseher.
Doch eines Abends gab es eine Änderung in dem Muster. Woody bog von seiner Straße nicht nach rechts ab, sondern nach links und fuhr auf den Highway 78 in östlicher Richtung. John war gezwungen gewesen, noch weiter zurückzubleiben, weil auf der Straße kaum Verkehr herrschte. Er musste das Lenkrad kräftig herumreißen, um die Ausfahrt noch zu erwischen, die Woody genommen hatte. Dann folgte er ihm zwanzig Minuten lang bis zu einem Schild mit der Aufschrift: Willkommen in Snellville ...wo jeder jemand ist!
John hatte das Auto in einer Wohnstraße abgestellt und ging zu Fuß, weil Woody das ebenfalls tat. Es war kalt, die erste Dezemberwoche, aber John schwitzte, weil er sich mitten in einem ruhigen Wohnviertel befand, mit schlafenden Kindern in jedem Haus. Er ließ sich von seiner Angst so beherrschen, dass er sein Objekt aus den Augen verlor. Er suchte die leeren Straßen ab, ging Sackgassen entlang und war so durcheinander, dass er den Fairlane nicht mehr fand.
John machte sich jetzt Sorgen um seine eigene Sicherheit. Er versteckte sich im Schatten, schrak bei jedem Geräusch zusammen und erwartete, dass jeden Augenblick ein Polizist neben ihm auftauchte, ihn überprüfte und sich fragte, was ein Pädophiler in dieser Gegend zu suchen habe.
Plötzlich entdeckte er in der Ferne einen Mann mit einem kleinen Mädchen. Beide stiegen in Woodys Auto ein und fuhren davon. Fünf Minuten später fand John den Fairlane wieder und verfluchte sich auf dem ganzen Rückweg nach Atlanta selbst. In den nächsten beiden Wochen suchte er in den Zeitungen nach einer Meldung, dass in Snellville etwas passiert sei - ein entführtes Kind, ein Mord. Er fand nichts, aber er wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war.
Die Wahrheit war ganz einfach: Woody benutzte Johns Identität aus einem ganz bestimmten Grund. Er versuchte, seine Spuren zu verwischen. John hatte
genug Zeit mit Kriminellen verbracht, um zu erkennen, wenn einer sich in Aktion befand. Es war abzusehen, bis das, was Woody im Schilde führte, auf John zurückfiel.
Zu diesem Zeitpunkt beschloss John, dass er sich lieber umbringen oder jemanden suchen würde, der es für ihn tat, als noch einmal ins Gefängnis zu gehen. Er hatte bereits zwanzig Jahre seines Lebens verloren, hatte sie vergeudet zwischen Pädophilen und Monstern. Das wollte er nicht noch einmal durchmachen. Er wollte Joyce diesen erneuten Schmerz, diese erneute Demütigung ersparen. Im Knast war er stark gewesen,
sein Wille wie gehärteter Stahl, aber das Leben in Freiheit hatte ihn weich gemacht, und er wusste, dass er den Verlust des bescheidenen Lebens, das er für sich aufgebaut hatte, nicht würde ertragen können. Da würde er sich lieber vorher eine Kugel in den Kopf jagen.
Etwa zu dieser Zeit traf John seine Schwester. Kurz vor Weihnachten hatte Joyce ihn in der Pension angerufen. Er war so überrascht gewesen, ihre Stimme zu hören, dass er
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