Will Trent 02 - Entsetzen
besser wussten.
»Scheiße«, flüsterte Paul und wischte sich die Augen ab. »Ich führe mich auf wie ein verdammtes Mädchen.«
Will schaute wieder auf seine Schuhe hinunter. Vor einem Jahr hatte er fünfundsiebzig Dollar dafür bezahlt. Vielleicht sollte er sich neue besorgen. Er schaute Pauls Schuhe an. Sie glänzten, als wären sie frisch poliert. Wahrscheinlich hatte er Leute, die das für ihn erledigten. Oder vielleicht kaufte er sich einfach neue Schuhe, wenn die alten erste Gebrauchsspuren zeigten. Wie viele bereits getragene Schuhe hatten sie beide im Kinderheim anziehen müssen? Gequetschte Zehen, Blasen an den Fersen. Wenn Will Pauls Geld hätte, würde er sich jeden Tag seines Lebens neue Schuhe kaufen.
Paul stieß noch einmal seufzend die Luft aus, von Wills Gedanken wusste er nichts. »Ich konnte nicht anders, ich musste über all die schlimmen Dinge nachdenken, die er ihr antun könnte.«
Will nickte. Paul kannte aus eigener Erfahrung alle diese Gemeinheiten, die Männer sich ausdachten, um Kinder zu quälen. Will hatte die Narben, die Prellungen gesehen. Er hatte Paul mitten in der Nacht schreien hören.
»Du bist der Einzige, mit dem ich über diese Scheiße reden kann.«
»Abigail weiß nicht Bescheid?«
»Sie ist noch immer bei mir, nicht?«
Am Tonfall des Mannes hörte Will, dass er sich schämte. Das klang für seine Ohren sehr vertraut. Er schaute Paul wieder an. »Warum hast du mich eigentlich so sehr gehasst, als wir Kinder waren?«
»Keine Ahnung, Müll, das ist lange her.«
»Ich meine es ernst, Paul. Ich will es wissen.«
Paul schüttelte den Kopf, und Will dachte schon, das sei die einzige Antwort, die er bekommen würde, bis der Mann sagte: »Du hattest es kapiert, Müll. Du wusstest, wie man seine Zeit absitzt.«
»Was meinst du damit?«
»Du hast es einfach akzeptiert. Dort zu sein, gefangen in dem Heim bis zum Lebensende. Nie irgendjemanden zu haben.« Er starrte Will an, als könnte er es immer noch nicht glauben. »Du warst zufrieden.«
Will dachte an all die Besuchstage, an denen er sich die Haare gekämmt und seine besten Sachen angezogen und dann inständig gehofft hatte, irgendein Paar würde ihn sehen, wie er Bilder ausmalte oder auf der Schaukel spielte, und denken: »Das ist der Richtige. Das ist der Junge, den wir als unseren Sohn wollen.« Keiner tat es. Kein Mensch tat es je. Das war keine Zufriedenheit, das war Resignation.
Zu Paul sagte er nur: »So war es überhaupt nicht.«
»Du hast es zumindest so aussehen lassen, als würdest du niemanden brauchen. Als könntest du mit allem allein zurechtkommen. Als wärst du zufrieden mit allem, was du bekommst.«
»Es war das genaue Gegenteil.«
»Vielleicht war es das«, gab Paul zu. »Weißt du, wenn man noch ein Kind ist, sieht man vieles anders.«
Will hörte die Worte aus seinem Mund kommen, bevor er etwas dagegen tun konnte. »Ich hole Emma für dich zurück.«
Paul nickte nur, offensichtlich traute er seiner Stimme nicht.
»Du musst stark für sie sein. Nur darüber musst du nachdenken: Wie du ihr helfen kannst.« Dann fügte Will noch hinzu: »Sie hat dich, Paul. Das ist der Unterschied. Was sie jetzt auch durchmacht, sie hat dich, der auf sie wartet, wenn das alles vorbei ist, und ihr dann hilft.«
»Ich wünsche mir, ich könnte stark sein«, sagte er. »Im Augenblick fühle ich mich so beschissen schwach.«
»Du bist nicht schwach. Du warst der fieseste Mistkerl in einem Haus voller Mistkerle.«
»Nein, Kumpel.« Er wirkte resigniert, als er Will auf die Schulter klopfte. »Ich war nur der mit der meisten Angst.«
Hinter der Tür hörte man, wie der Hahn aufgedreht wurde und Wasser ins Becken floss. Der Handtuchspender quietschte, als an der Kurbel gedreht wurde, dann ging die Tür auf. Abigail hatte ihr Make-up korrigiert und frischen Lippenstift aufgelegt. Will führte die beiden den Gang entlang und drückte auf den Rufknopf. Abigail hatte den Kopf an Pauls Schulter gelegt und die Augen geschlossen, als müsste sie ihre ganze Willenskraft zusammennehmen, um das alles durchzustehen. Als die Türen aufglitten, gab Will seinen Code ein. Emmas Eltern konnten das Gebäude verlassen.
Paul nickte nur knapp und steif - kein Dankeschön, nur das Eingeständnis, dass Will hier war.
Abigail schaute Will kein zweites Mal an, als die Türen sich schlossen.
Will blickte auf die Fotos in seiner Hand. Emma lächelte ihn an. Er blätterte die Fotos durch. Auf einigen war sie mit ihren Eltern zu sehen.
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