Will & Will
weil mein Wecker klingelt, in rhythmischen Abständen dröhnt es in meinen Ohren, ungefähr so laut wie eine Sirene. Der Lärm brüllt mich mit solcher Wucht an, dass ich mich klein und hilflos fühle. Ich rolle auf die andere Seite und blinzle durch die Dunkelheit: 05:43. Ich habe meinen Wecker auf 06:37 Uhr gestellt.
Und erst da merke ich: Das Geräusch kommt nicht von meinem Wecker. Es ist die Hupe eines Autos, was da die Stille zerreißt. Ein grässliches Sirenenlied, das durch die Straßen von Evanston fegt. Eine heulende Warnung vor dem Weltuntergang. So früh hupen keine Autos, nicht mit solcher Dringlichkeit. Es muss sich um einen absoluten Notfall handeln.
Ich springe aus dem Bett, schlüpfe hastig in meine Jeans und rase zur Haustür. Erleichtert stelle ich fest, dass sowohl Mom als auch Dad am Leben sind und ebenfalls zur Haustür rasen. Ich frage: »Was ist da draußen los?« Meine Mutter zuckt nur mit den Schultern und mein Vater sagt: »Ist das eine Autohupe?« Ich bin als Erster an der Tür und spähe durch das kleine Fenster hinaus.
Tiny Cooper hat vor unserem Haus geparkt und drückt in regelmäßigen Abständen auf die Hupe.
Ich reiße die Tür auf und renne nach draußen und als er mich sieht, hört er zu hupen auf. Das Beifahrerfenster geht herunter.
»Bist du total durchgeknallt, Tiny? Du weckst die ganze Nachbarschaft auf!«
In seiner zitternden, riesigen rechten Hand sehe ich eine Red-Bull-Dose auf und ab tanzen. Die andere Hand schwebt lauernd über der Hupe, bereit, jeden Augenblick wieder niederzusausen.
»Wir müssen los«, sagt er. »Wir müssen los los los los los los los los.«
»Was ist passiert, Tiny?«
»Wir müssen in die Schule. Ich erklär’s dir später. Steig ein.« Er klingt so verzweifelt ernst und ich bin so müde, dass ich gar nicht auf die Idee komme, nachzufragen. Ich laufe zurück ins Haus, ziehe Socken und Schuhe an, putze hastig die Zähne, sage meinen Eltern, dass ich heute früher in die Schule muss, und steige dann zu Tiny ins Auto.
»Fünf Dinge, Grayson«, sagt er, während er Gas gibt und losbraust, ohne dass seine zitternde Hand die Red-Bull-Dose fallen lässt.
»Was? Was ist passiert, Tiny?«
»Nichts ist passiert. Alles bestens. Die Dinge könnten nicht besser sein. Vielleicht etwas weniger übermüdet. Vielleicht etwas weniger geschäftig. Vielleicht etwas weniger auf Koffein. Aber sie könnten nicht besser sein.«
»Hast du was eingeworfen?«
»Nein, ich bin nur auf Red Bull.« Er hält mir die Dose hin und ich rieche daran, versuche herauszufinden, ob da noch was anderes drin ist. »Und außerdem noch Kaffee«, fügt er hinzu. »Aber jetzt hör mir zu, Grayson. Fünf Dinge.«
»Ich kann nicht fassen, dass du hier ohne jeden Grund um kurz vor sechs das ganze Viertel aufweckst.«
»Stimmt nicht ganz«, sagt er mit lauterer Stimme, als es für eine so zarte frühe Stunde angemessen ist, »ich hab dich
aus fünf Gründen aufgeweckt, was ich dir ja die ganze Zeit beizubringen versuche, nur dass du mich andauernd unterbrichst, was ich von dir sehr… also ich finde, das ist eigentlich Tiny-Cooper-Stil.«
Ich hab Tiny Cooper schon als sehr großen und sehr schwulen Fünftklässler gekannt. Ich habe ihn betrunken und nüchtern, hungrig und satt, laut und noch lauter, verliebt und mit Liebeskummer erlebt. Ich habe ihn in guten und in schlechten Zeiten erlebt, in Gesundheit und Krankheit. Und in all diesen Jahren hat er noch nie einen Witz über sich selbst gemacht. Und ich kann mir nicht helfen, ich denke: Vielleicht sollte Tiny Cooper öfter mal sein Hirn mit Koffein durchpusten.
»Okay, was sind die fünf Gründe?«, frage ich.
»Erstens, ich habe gestern Abend ungefähr um elf endgültig festgelegt, wer in meinem Musical welche Rolle bekommt, und zwar während ich mit Will Grayson geskypt habe. Er hat mir geholfen. Ich hab ihm alle Bewerber, die in Frage kommen, vorgespielt, und er hat mir dann geholfen, herauszufinden, wer davon am wenigsten schrecklich ist.«
»Mit dem anderen Will Grayson«, verbessere ich ihn.
»Zweitens«, fährt er fort, als hätte er mich nicht gehört. »Will ist kurz darauf schlafen gegangen. Und mir ging danach durch den Kopf, dass es jetzt acht Tage her ist, seit ich ihn kennengelernt habe, und eigentlich hab ich in meinem ganzen Leben nie jemanden gemocht, der mich acht Tage lang auch gemocht hat, außer man rechnet meine Beziehung zu Bethany Keene in der dritten Klasse dazu, was aber nicht wirklich zählt, weil
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