Will & Will
sie ja ein Mädchen war. Und dann hab ich drittens so darüber nachgedacht und bin im Bett gelegen
und hab an die Decke gestarrt, auf die ganzen Sterne, die wir dort in der sechsten Klasse oder wann das war aufgeklebt haben. Weißt du noch? Die Sterne-die-im-Dunkeln-leuchten und der Komet und das alles?«
Ich nicke, aber er sieht gar nicht zu mir rüber, obwohl wir gerade an einer Ampel stehen. »Jedenfalls«, fährt er fort, »schau ich die Sterne an und sie verblassen allmählich, weil es schon ein paar Minuten her ist, dass ich das Licht ausgemacht habe, und dann durchfährt mich plötzlich wie ein Blitz eine Erleuchtung. Denn wovon handelt eigentlich Tiny Dancer ? Ich meine, du hast es doch gelesen. Was ist das Thema, Grayson? «
Ich gehe davon aus, dass er diese Frage wie immer rhetorisch meint, deshalb antworte ich darauf erst mal nichts, damit er mit seinem Redeschwall einfach fortfährt. Denn so ungern ich das auch zugebe, aber Tinys Redeschwall zuzuhören hat irgendwie etwas Schönes und Beruhigendes, vor allem jetzt, in dieser stillen Straße am frühen Morgen wo ich noch gar nicht richtig wach bin. Da ist etwas an seiner Art zu reden, was ich als irgendwie angenehm empfinde, ob es mir nun gefällt oder nicht – irgendetwas an seiner Stimme, nicht der Tonfall oder die vom Koffein aufgeputschte, maschinengewehrähnliche Sprechweise, sondern die Stimme an sich – ihre Vertrautheit, vermute ich mal, und auch die schiere Unerschöpflichkeit seines Redeflusses.
Aber er sagt eine Weile nichts, und ich merke, dass er tatsächlich auf eine Antwort von mir wartet. Ich weiß nicht, was er gern hören möchte, deshalb sage ich ihm einfach die Wahrheit. » Tiny Dancer handelt von Tiny Cooper«, sage ich.
»Genau!«, ruft er und hämmert wie wild aufs Lenkrad. »Aber kein großes Musical handelt jemals nur von einer Person, jedenfalls nicht ausschließlich. Und das ist das Problem. Das ist das ganze Problem an dem Stück. Es handelt nicht von Toleranz oder Hilfsbereitschaft oder Liebe oder so was. Es handelt von mir. Und, na ja, nichts gegen mich. Ich meine, ich bin schon ein ziemlich toller Kerl. Oder etwa nicht?«
»Du bist ein Pfeiler an Tollheit in unser Schulgemeinschaft«, sage ich.
»Ja, genau«, sagt er mit einem Grinsen. Aber schwer zu sagen, wie weit bei ihm da der Spaß wirklich geht. Wir biegen auf das Schulgelände ein, das völlig ausgestorben daliegt, kein einziges Auto steht um diese Uhrzeit auf dem Parkplatz. Tiny parkt an seinem üblichen Platz, angelt sich seinen Rucksack vom Rücksitz, steigt aus und marschiert über das verlassene Areal. Ich folge ihm.
»Viertens«, sagt er. »Da habe ich erkannt: Trotz meiner großartigen und geradezu einschüchternden Tollheit kann das Stück nicht nur von mir handeln. Es muss um etwas noch Tolleres gehen: die Liebe. Um das glitzernde, sternenübersäte Firmament der Liebe in all seiner Pracht und Herrlichkeit. Und deshalb musste ich es überarbeiten. Und ihm einen neuen Titel geben. Und deshalb hab ich die ganze Nacht durchgemacht. Ich habe wie verrückt geschrieben und komponiert und rausgekommen ist ein neues Musical mit dem Titel Hold Me Closer – In Liebe, Euer T. Wir brauchen noch viel mehr Bühnenbild und Ausstattung als bisher. Und einen viel, viel größeren Chor! Der Chor muss wie eine verdammte Mauer aus Gesang auf der Bühne stehen, kapiert?«
»Ja, schon in Ordnung. Und fünftens?«
»Ach ja, stimmt.« Er holt seinen Rucksack nach vorne, macht die Vordertasche auf, wühlt darin herum und befördert dann eine Rose aus grünem Klebeband zutage. Er überreicht sie mir. »Wenn ich mich gestresst fühle«, erklärt Tiny, »muss ich immer irgendwas basteln. Okay. Okay. Ich mach mich jetzt in den Theatersaal auf und fang an, ein paar Szenen genauer auszuarbeiten. Mal sehen, wie meine neue Fassung auf der Bühne wirkt.«
Ich bleibe stehen. »Ähm, brauchst du vielleicht meine Hilfe oder so?«
Er schüttelt den Kopf. »Nichts für ungut, Grayson, aber welche Erfahrung mit dem Theater hast du denn bisher vorzuweisen?«
Und damit lässt er mich einfach stehen. Ich versuche, standhaft zu bleiben, aber schließlich renne ich ihm nach, die Treppe zur Schule hoch, weil mir noch eine Frage auf den Lippen brennt: »Und warum zum Teufel hast du mich dann um 5:43 Uhr geweckt?«
Er dreht sich zu mir um. Unmöglich, nicht Tinys Riesenhaftigkeit zu spüren, wie er da über mich gebeugt dasteht, groß und breitschultrig, mit seinem massigen Körper fast
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