Will & Will
mache ihm klar, dass er lieber gleich aufgeben soll.
tiny: erzähl. was willst du mir sagen?
frag mich besser nicht , möchte ich ihn am liebsten warnen. aber dann sag ich’s ihm.
ich: hör zu, tiny … ich versuch ja mein bestes, aber du musst echt verstehen … ich bin immer auf der kippe, immer kurz vor dem abgrund. und jemand wie du kann vielleicht manchmal bewirken, dass ich in die andere richtung schaue, sodass ich nicht mehr merke, wie tief der abgrund ist. aber irgendwann dreh ich dann den kopf. immer. und stürze in den abgrund. tief hinunter. das ist der scheiß, mit dem ich mich jeden tag rumquälen muss, und das wird nicht so schnell anders werden. ich find’s schön, dass du da bist, aber soll ich dir was sagen? willst du, dass ich wirklich ehrlich bin?
er sollte das gefälligst als warnung auffassen. aber nein. er nickt.
ich: das mit dir gerade fühlt sich für mich wie urlaub an. ich glaube nicht, dass du weißt, wie es ist. ist auch gut so – das willst du nämlich gar nicht wissen. du hast ja keine ahnung, wie ich das hasse. ich hasse es, dass ich in diesem augenblick alles ruiniere, den abend, alles …
tiny: tust du nicht.
ich: doch. tu ich.
tiny: wer sagt das?
ich: ich.
tiny: hab ich da gar kein mitspracherecht?
ich: nein. ich ruinier das einfach. du hast da gar kein mitspracherecht.
tiny zupft mich leicht am ohr.
tiny: weißt du, dass du mich total anmachst, wenn du so destruktiv bist?
seine finger streichen meinen hals entlang, unter den ausschnitt meines t-shirts.
tiny: ist mir schon klar, dass ich deinen dad oder deine mom oder deine vergangenheit nicht ändern kann. aber weißt du, was ich tun kann?
seine andere hand wandert mein bein entlang.
ich: was?
tiny: was ganz anderes. das kann ich dir geben. etwas ganz
anderes.
ich bin daran gewöhnt, bei anderen menschen immer den schmerz nach außen zu kehren. aber tiny weigert sich, dieses spiel mitzuspielen. wenn wir uns tagsüber eine sms nach der anderen schicken und auch jetzt, wo er leibhaftig bei mir ist, versucht tiny immer, bis zum herz der dinge vorzudringen. und das bedeutet, dass er auch immer glaubt, es gibt beim anderen ein herz, zu dem er vordringen kann. ich finde das etwas lächerlich und bewundere ihn gleichzeitig dafür. und ich will dieses ganz andere, das er mir geben kann, obwohl ich weiß, dass es niemals etwas sein wird, das ich wirklich annehmen und als mein eigen betrachten kann.
ich weiß, dass es nicht so einfach ist, wie tiny glaubt. aber er bemüht sich so. deshalb gebe ich mich ihm hin. ich gebe mich dem anderen hin.
auch wenn mein herz nicht ernstlich daran glaubt.
Fünfzehntes Kapitel
Am nächsten Tag ist Tiny nicht in Mathe. Ich nehme an, dass er irgendwo über ein absurd kleines Heft gebeugt dasitzt und neue Lieder hineinschreibt. Es kümmert mich nicht weiter. Zwischen der zweiten und der dritten Stunde sehe ich ihn, als ich an seinem Schließfach vorbeikomme. Seine Haare sind ungewaschen und seine Augen wirken unnatürlich groß.
»Zu viel Red Bull?«, frage ich, als ich auf ihn zugehe.
Er antwortet in einem einzigen Atemzug. »In neun Tagen ist Premiere, Will Grayson ist wunderbar, alles läuft bestens, ich muss jetzt zu den Proben, Grayson, wir sehen uns beim Mittagessen.«
»Der andere Will Grayson«, sage ich.
»Äh, was?«, fragt Tiny und schmettert die Schließfachtür zu.
»Der andere Will Grayson ist wunderbar.«
»Ja, ja, wie du meinst«, antwortet er.
Mittags taucht er nicht an unserem Tisch auf, genauso wenig wie Gary oder Nick oder Jane oder irgendwer sonst, und ich hab keine Lust, da ganz allein rumzusitzen, deshalb nehme ich das Tablett in den Theatersaal mit, weil ich vermute, dass ich sie dort alle finde.
Tiny steht in der Mitte der Bühne, ein Heft in der einen Hand und sein Handy in der anderen, und gestikuliert wild herum. Nick sitzt in der ersten Reihe. Tiny redet gerade mit Gary, und weil die Akustik in dem Saal so fantastisch ist, kann ich genau hören, was er zu ihm sagt, sogar von ganz hinten.
»Was du dir bei Phil Wrayson immer wieder sagen musst, Gary: Er ist jemand, der eigentlich vor allem Angst hat. Vor allem und jedem. Er tut immer so, als würde er nichts an sich ranlassen, aber in Wirklichkeit ist er derjenige, um den man sich in dem ganzen verdammten Stück die meisten Sorgen machen muss. Ich möchte das Zittern in seiner Stimme hören, wenn er singt, seine Bedürftigkeit, von der er hofft, dass
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