Will & Will
keiner sie hinter seiner Fassade spürt. Das ist es nämlich, was ihn so nervig macht, verstehst du? Was er sagt, ist nicht nervig. Aber wie er es sagt. Wenn Tiny also die Plakate aufhängt und Phil einfach nicht aufhört mit seinen blöden Problemen mit diesem Mädchen, die er sich selbst eingebrockt hat, müssen wir hören, was daran nervt. Aber du darfst es auch nicht übertreiben. Es muss subtil sein. Nur eine winzige Spur. So wie ein Steinchen im Schuh.«
Eine Minute lang stehe ich einfach nur da und warte darauf, dass Tiny mich sieht, und endlich tut er das auch. »Er ist eine Figur in dem Stück, Grayson«, brüllt Tiny. »Nur eine Figur in dem Stück.«
Das Tablett immer noch in den Händen, drehe ich mich auf dem Absatz um und gehe raus. Ich setze mich vor dem Theatersaal auf den Boden, den Rücken gegen eine der Vitrinen mit den Sportpokalen gelehnt, und esse erst mal ein bisschen was.
Ich warte auf ihn. Dass er kommt und sich entschuldigt. Oder dass er kommt und mich anbrüllt, was ich eigentlich für ein Schlappschwanz bin. Ich warte darauf, dass die dunklen Flügel der Holztür aufschwingen und Tiny hindurchstürmt und was zu mir sagt.
Ich weiß, dass es nicht sehr erwachsen von mir ist, aber das ist mir jetzt egal.
Manchmal braucht man es einfach, dass der beste Freund durch die Tür gestürmt kommt. Aber genau dann kommt er nicht. Und obwohl ich mich dabei klein und dumm fühle, stehe ich schließlich auf und lasse die Tür selber aufschwingen. Tiny singt auf der Bühne hingebungsvoll ein Lied über Oscar Wilde. Ich stehe einen Augenblick da und hoffe immer noch, dass er mich sieht, und merke erst, dass ich zu weinen angefangen habe, als mir beim Einatmen ein schluchzender Laut aus der Kehle dringt. Ich ziehe die Tür wieder zu. Falls Tiny mich bemerkt haben sollte, gibt er es jedenfalls nicht zu erkennen. Er singt einfach weiter.
Den Kopf so tief gesenkt, dass mir die salzigen Tränen von der Nasenspitze tropfen, schleiche ich über den Flur. Ich gehe zum Haupteingang raus – draußen ist die Luft kalt, aber die Sonne warm – und die Stufen hinunter. Ich gehe den Gehweg entlang, bis ich zum Sicherheitstor komme, und schlage mich in die Büsche. Etwas in meiner Kehle würgt mich so stark, dass ich befürchte, daran zu ersticken. Ich zwänge mich zwischen den Büschen hindurch, wie Tiny und ich es in unserem ersten Jahr hier gemacht haben, als wir die Schule schwänzten, um uns in Boystown die Parade anzugucken. Wo er mir dann gestanden hat, dass er schwul ist.
Ich gehe weiter bis zu dem Little-League-Sportplatz, der auf halbem Weg zwischen der Schule und zu Hause liegt. Meine alte Schule ist ganz in der Nähe, und als Kind bin ich dort oft allein hingegangen, nach dem Unterricht oder einfach nur so, um nachzudenken. Manchmal hatte ich einen Block oder ein Heft dabei, um irgendwas zu zeichnen,
aber meistens war ich einfach nur da. Ich gehe um den Maschendrahtzaun am Ende des Baseballfelds herum und setze mich auf die überdachte Spielerbank, den Rücken gegen die von der Sonne gewärmte Aluminiumwand gelehnt, und heule.
Das mag ich nämlich an der Spielerbank hier so: Ich befinde mich hinter der Third Base und kann vor mir den sandigen Diamond sehen und die vier Reihen der hölzernen Zuschauertribüne auf der einen Seite, und dann auf der anderen Seite das Outfield und dahinter den nächsten Diamond, und dann einen großen Park und dann die Straße. Ich kann Leute sehen, die mit ihren Hunden spazieren gehen, und ein Pärchen, das sich gegen den Wind stemmt. Aber wie ich so dasitze, den Rücken an die Wand gelehnt und das Aluminiumdach über dem Kopf, kann mich keiner sehen, den ich nicht selber auch sehen kann.
Die Situation ist so ungewöhnlich und seltsam, dass einem davon einfach nur die Tränen kommen können.
Tiny und ich haben früher zusammen in der Little League gespielt – nicht in diesem Park, sondern in einem anderen, näher bei uns. Wir haben in der dritten Klasse damit angefangen. So haben wir uns auch angefreundet, glaub ich. Tiny war natürlich stark wie ein Walross, aber mit dem Schläger konnte er es nicht so gut. Dafür brachte er unsere Mannschaft in eine Spitzenposition, was die eingesteckten Treffer betraf. Es gab bei ihm ja auch so viel zu treffen.
Ich spielte ganz ordentlich als First Baseman und brachte unsere Mannschaft nirgendwohin.
Ich stütze die Ellenbogen auf die Knie wie damals, wenn ich den Spielern von einer Bank wie der hier zugeschaut
habe. Tiny
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