Wille zur Macht
gegeneinander. Sie war völlig aufgelöst und durcheinander. Anna, ihre kleine Tochter Anna, die sie seit Jahren trotz aller Bemühungen nicht finden konnte. Schnodder lief ihr aus der Nase, und sie konnte ihren Tränenfluss nicht stoppen. Kleine Tröpfchen platschten vor ihr auf die Tischplatte. Wie konnten diese Typen nur so niederträchtig sein? Mechthild suchte nach einem Taschentuch und versuchte, sich wieder zu beruhigen. Sie ließen ihr Zeit. Endlich gelang es ihr.
„Wie viel Zeit habe ich, um es mir zu überlegen?“
„Bis morgen Mittag. Keine Minute später als zwölf Uhr. Rufen Sie Herrn Roder an. Dann unterschreiben Sie uns eine Erklärung, händigen uns Ihr restliches Material aus, und Ihre Tochter kehrt zurück. Wäre doch wirklich schön, jetzt, wo Sie gerade eine neue Beziehung eingegangen sind.“
„Und der Mord?“ fragte Mechthild leise. Sie hatte einen Teil ihrer Fassung wiedererlangt.
„Das dürfen Sie sich aussuchen“, erwiderte Schmidt gleichgültig. „Na ja, entweder leben Sie mit einem unaufgeklärten Mord in Ihrer Biographie. Oder wir haben auch einen aidskranken Neonazi, der bald die Tat gestehen würde. Eher ein Mitläufer, der sich in der Szene profilieren wollte. Er wird gestehen, und seine Frau und die beiden Kinder werden nach seinem baldigen Tod versorgt sein.“
Mechthilds Denkapparat wurde langsam wieder lebendig. „Und die genetischen Beweise aus Riga? Die fragen doch sicher nach?“
„Ach, Frau Kayser. Lettland ist doch jetzt in der EU. Die haben doch die gleichen sicherheitspolitischen Interessen wie wir. Kein Problem also.“
Mechthild spürte, dass diese Situation sie überforderte. Diese Herren schienen an alles gedacht zu haben. Doch sie brauchte Zeit.
„Ich muss es mir überlegen. Ich kann das jetzt nicht entscheiden. Das ist zu viel für mich. Kann ich jetzt gehen?“ Sie war mit einem Mal völlig fertig. Und wollte hier weg. Nur weg von diesen Scheißkerlen.
„Es gibt hier nur das Hier und Jetzt“, schnauzte Kotzeck los und erntete einen strafenden Blick von Schmidt. Der hatte hier das Sagen.
„Nichts überstürzen, Herr Kollege!“ Dann wandte er sich an Mechthild. „Ich will Ihr Ehrenwort, dass Sie bis zu Ihrer Entscheidung nichts weiter unternehmen. Ich weiß, dass Ihr Wort für Sie etwas zählt und Sie sich daran halten werden.“
Mechthild nahm noch einmal alle Kraft zusammen. „Einverstanden. Sie haben mir etwas unterbreitet, auf das ich nicht gefasst war. Das bringt mich völlig durcheinander. Für Sie ist diese Situation völlig emotionslos, aber in mir werden tiefste Gefühle geweckt. Wir bewegen uns auf unterschiedlichen Ebenen. Ich hatte mit verschiedenen, rationalen Angeboten gerechnet, über die ich hier am Tisch hätte nachdenken können. Aber jetzt berühren Sie mich als Mutter und reißen alte Wunden auf. Da bin ich als Frau einfach nicht so schnell wie Sie.“ Mechthild spielte die emotionale Karte. Und es machte den Eindruck, als wenn diese versammelte Männergesellschaft darauf hereinfallen würde. Sie dachten, sie hätten sie gebrochen. Schmidt gab sich jovial.
„Natürlich, das verstehe ich. Kein Problem. Ich habe das erwartet. Gehen Sie ruhig. Sie sind ein freier Mensch.“
Erschöpft und mit großer Anstrengung erhob sich Mechthild und ging zur Tür. Sie taumelte leicht und prallte gegen den Türrahmen. Aber dann fand sie den Weg sicher hinaus. Auf dem Flur wartete Ayse. Sie war schockiert, ihre Freundin so verstört und niedergeschlagen zu sehen. Sie ahnte nicht, was vorgefallen war. Aber es musste schrecklich gewesen sein. Vorsichtig nahm sie sie in den Arm und drückte sie fest. Mechthild schniefte. „Komm, lass uns hier verschwinden.“
In ihrer Wohnung berichtete Mechthild ihrer Freundin von dem Angebot, das man ihr unterbreitet hatte. Ayse war sich sicher, dass es nur zum Schein abgegeben worden war, um Zeit zu gewinnen. Zeit, die diese Herren brauchten, um alles zu vertuschen. „Roder ist nicht ehrlich, Mechthild. Und diese Leute, mit denen er aufgetaucht ist: Denen kann man doch nicht über den Weg trauen!“
Mechthild nickte bedrückt. Natürlich hatte Ayse recht. Aber ihre Gedanken waren bei Anna. Konnten sie sie ihr wirklich zurückbringen?
Ayse rückte auf dem Sofa näher an ihre Freundin heran. „Aber ich kann dir deine Entscheidung nicht abnehmen. Es ist eine Chance. Ich kann verstehen, wenn du nichts unversucht lassen willst, um deine Tochter wieder zurückzubekommen. Anna ist wichtiger als alles andere
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