Wille zur Macht
jedenfalls in der Barricada. Der Verkäufer zog eine der Flaschen aus der Kiste, öffnete sie und goss den Inhalt in einen kleinen Plastikbeutel, den er mit einem Knoten verschloss und Christian reichte. Seit Coca-Cola verstaatlicht worden war, waren die Flaschen Mangelware und wurden wie Schätze streng gehütet. Deshalb wurde die Cola aus den abgenutzten Flaschen umgefüllt.
Dunker biss in eine Ecke des Plastikbeutels und ließ den Inhalt in seinen Mund laufen. Das kühle Getränk und der Zucker ließen ihn wieder aufleben.
Er blickte zurück auf die Menschenmenge auf dem Platz der Revolution. Die Reden hatten ein Ende gefunden, aber die Menschen blieben noch, schwenkten ihre Fahnen, viele davon ganz revolutionär in Schwarz-Rot, und ihre Transparente. Die neue Nationalhymne Nicaraguas drängte aus den Lautsprechern, und viele sangen sie mit. Von hier aus war das riesige Monument eines revolutionären Klassenkämpfers, das an diesem Tag auch eingeweiht worden war, viel besser wahrzunehmen als aus der Nähe. Die Höhe des schwarzen, muskulösen Mannes, der auf einem mächtigen Steinquader stand, kämpferisch am nach oben gestreckten Arm die Kalaschnikow mit ihrem geschwungenen Magazin haltend, in der anderen Hand eine Spitzhacke, konnte Dunker nicht abschätzen. Die Statue hob sich geradezu monströs gegen den hellen Himmel ab und wirkte eher abstoßend. Für solche Art von Kunst hatte er kein Verständnis. Sie erinnerte ihn zu stark an die schönen Körper von Leni Riefenstahl und die skulpturalen Verkörperungen der überlegenen Herrenrasse der Nazis. Aber es war ihm natürlich auch klar, dass ein engerer politischer Zusammenhang nicht bestand. In der Darstellung von Macht und Schönheit gab es eben Überschneidungen – und dieselben Geschmacksverirrungen.
Dunker trank den Plastikbeutel leer und schlenderte weg von der Plaza España in irgendeine Richtung. Er war kein großer Freund solcher Massenveranstaltungen. Er war mehr an der praktischen Arbeit interessiert. Er wollte endlich in das Dorf, in dem er mit der Brigade die nächsten Wochen und Monate zubringen würde. Sie wollten dort die Miliz verstärken und nebenbei Häuser für immer mehr ankommende Flüchtlinge aus der Grenzregion bauen, die auf der Flucht vor der Contra ihre Dörfer verlassen mussten. Darin sah er den Sinn dieser Unternehmung. Sie war wahrscheinlich eher humanitär als revolutionär. Für seinen Traum von einer besseren Welt wollte er das beitragen.
Auf seinem Weg sah er einige Ruinen ehemaliger Hochhäuser. Verlassen standen sie im Gestrüpp der überwucherten Trümmerfelder. Im weißgestrichenen Beton waren noch die Spuren der Kämpfe zu erkennen. Einschüsse im Putz und durch Granaten gerissene Löcher bezeugten, dass der Befreiungskampf noch nicht lange zurücklag. Und für die Beseitigung der Spuren nicht ausreichend Geld vorhanden war.
In der Ferne leuchtete in der Sonne in sattem Grün ein Berg, auf dessen einsehbarer Flanke mit weißen Steinen weithin sichtbar das Kürzel der Befreiungsfront FSLN ausgelegt war. In diesem zum Teil ausgehöhlten Berg soll der Diktator Somoza eines seiner berüchtigten Foltergefängnisse gehabt haben. Und hier soll er Kinder in Käfigen zu Folterknechten erzogen haben, spezialisiert auf das Ausstechen von Augen. Wegen ihrer kleinen Finger. In der Barricada hatte gestanden, dass diese Kinder nach ihrer Befreiung alle erfolgreich resozialisiert werden konnten. Dunker hoffte es für sie.
Er machte sich wieder auf den Weg zurück in seine Behausung und passierte die Laguna de Tiscapa an ihrer östlichen Seite. An mehreren Stellen in Managua konnte man auf tiefliegende Seen dieser Art stoßen. Man musste schon einige Höhenmeter heruntersteigen, um an ihre Ufer zu gelangen. Sie wirkten magisch mit ihrem dunkelgrünen bis schwarzen Wassern. Das Baden war meistens verboten. Zu gefährlich waren ihre Strömungen und Tiefen.
Es war schon nachmittags, als er das Haus der el salvadorianischen Befreiungsfront erreichte. Die meisten anderen Brigadisten waren schon länger wieder zurück. Es herrschte helle Aufregung. Martin, ein Zimmermann aus Hamburg, war auf dem Weg zur Kundgebung von Militärpolizisten kontrolliert worden und hatte seinen Pass nicht dabei. Ohne viel Federlesen und Rücksicht auf die Einwände der anderen Brigadisten wurde er verhaftet, in einen Transporter gezerrt und abgeführt. Renate war seit mehreren Stunden dabei, ihn zu suchen und zu befreien. Dunker zog sich mit einigen anderen in
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