Willenlos
merkwürdigerweise nicht aufgefallen. Florenz List ärgerte sich, nirgendwo in den Erinnerungen den Namen zu finden. Für gewöhnlich drang er tief in die Augen seines Gegenübers ein, konnte darin lesen wie in einem aufgeschlagenen Buch. Es wollte nicht gelingen, fast hatte List den Eindruck, die buschigen Augenbrauen würden die Fenster zur Seele verdecken. Der ausdruckslose Blick hatte den Richter immer unruhiger werden lassen. Nachdem der Ober ihnen Cappuccini und Tafelwasser serviert hatte, fragte List nach dem Grund des Treffens.
»Hornbach ist unschuldig, das wissen Sie.«
Florenz List ärgerte sich, es war bekannt, dass er den Prozess gegen Hornbach leiten würde. Sollte der Grund des Treffens den einzig banalen Hintergrund haben, Einflussnahme auszuüben, hätte er sich den Weg sparen können. Er machte seinem Ärger Luft. Sein Gesprächspartner reagierte wütend, redete wild gestikulierend auf ihn ein. Dabei stieß er ein Glas Wasser so unglücklich um, dass der Inhalt teilweise über die Hose des Richters träufelte.
Während List in der Toilette die Hose notdürftig trocknete, überlegte er, die Polizei einzuschalten. Das Restaurant war um diese Zeit gut gefüllt, er zog es vor, Luca diese Peinlichkeit zu ersparen.
Der Mann hatte sich beruhigt, List war noch ein weiterer Grund für dieses Gespräch eingefallen. Er hatte am Telefon behauptet, den wahren Mörder zu kennen.
»Das ist richtig. Es ist eine äußerst delikate Angelegenheit, über die ich jetzt keine Auskunft geben darf. Ich muss Sie in dieser Frage um ein wenig Geduld bitten.«
Florenz List war überrascht. Während er den Cappuccino austrank, hatte er die weitere Vorgehensweise überdacht. Die Aussage des Mannes entbehrte jeder Grundlage, dennoch machte ihn auch jetzt noch die bloße Möglichkeit unruhig, er könne einen Menschen unschuldig lebenslänglich ins Gefängnis schicken. Florenz List würde sich auf diese Verhandlung besonders gründlich vorbereiten. Weit mehr Sorge bereitete ihm allerdings das Telefonat, welches er vor wenigen Minuten mit dem Kellner des Restaurants geführt hatte. Er fand keine Erklärung, so sehr er sich auch anstrengte. Die Fahrt zum Restaurant dauerte höchstens zehn Minuten, das Gespräch hatte maximal eine halbe Stunde gedauert. Zurück in der heimischen Villa hatte Annabelle ihm eine Szene gemacht, weil er drei Stunden fort gewesen war und dadurch das gemeinschaftliche Abendessen versäumte. Jegliches Zeitgefühl war ihm abhanden gekommen, er hatte sich unwohl gefühlt, Herzstiche und Magenkrämpfe gehabt und sich sofort ins Bett begeben.
Dreimal hatte er Antonio, den schlanken, braungebrannten Kellner, gefragt, doch dieser war absolut sicher, wiederholte mehrmals das Unglaubliche:
»Sie haben mit Ihrem Gast ungefähr um 17.30 Uhr das Restaurant verlassen und sind um Viertel nach sieben allein zurückgekehrt.«
Der Richter stand auf und genehmigte sich einen milden französischen Cognac. Er hielt den Schwenker mit der goldbraunen Flüssigkeit vor die Kerze auf dem Beistelltisch, drehte das Glas sanft im Kreis und setzte es schließlich an den Mund. Florenz List fasste den Entschluss, am nächsten Tag Dr. Stankowitz, seinen Hausarzt, aufzusuchen. Es musste eine Erklärung für diese Amnesie geben. Ein weiterer Schluck des teuren Cognacs rann seine Kehle herunter, als unvermittelt die Tür aufgerissen wurde. Mit wogenden Schritten schwebte Annabelle durch den Raum. Dabei drehte sie sich mehrmals wie eine Tänzerin. Das dunkelrote Kleid öffnete sich wie ein Schirm und brachte ihre endlos anmutenden Beine zum Vorschein.
»Gefällt es dir, Liebster? Eine neue Kreation von Chanel, für die Charité-Veranstaltung nächsten Samstag.«
Obwohl Florenz List ahnte, dass die Neuanschaffung mindestens dem Monatsgehalt seiner Sekretärin entsprechen dürfte, wünschte er sich, sie würde es auf der Stelle ausziehen. Sie war von atemberaubender Schönheit. Er hatte die 22 Jahre jüngere Annabelle vor einigen Jahren kennengelernt. Zu dieser Zeit war sie noch Jurastudentin. Die Scheidung hatte damals die Hälfte seines Vermögens verschlungen. Aber der Rest des üppigen Erbes seiner Eltern war für Annabelle immer noch Grund genug, an seiner Seite zu bleiben. Sie genoss das Leben in der Beletage der Düsseldorfer Gesellschaft in vollen Zügen. List war stolz, nahm sie gern mit zum Abendessen mit dem OB, einer Cocktailparty bei den Henkels oder der Premiere einer neuen Oper. Er genoss die verstohlenen Blicke
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