Willenlos
Familie oder tief in der Nacht, das Bild des unschuldig einsitzenden Udo Hornbachs vor Augen zu haben. Auch er bezog letztendlich seine Motivation daraus, einem wehrlosen Menschen zu helfen. Wenngleich ihm die Prioritäten des Staatsanwaltes noch immer sauer aufstießen.
Auf dem Flur bat Joshua Daniel, die Zeugen für die Gegenüberstellung herzubringen.
»Ich fahre in der Zwischenzeit nach Oberhausen. Ich wette, wir finden irgendeinen Hinweis auf dieses Medikament.«
39
Lisa Blankenagel saß gekrümmt auf der Bettkante. Ihre Augen waren stark gerötet. Karin setzte sich neben sie aufs Bett, legte eine Hand um die Schulter des Mädchens und zog es sanft an sich. In kurzen Abständen liefen feine Vibrationen durch ihren Körper. Am Tag zuvor hatte Karin in der Kantine mit Jutta Sennheiser gesprochen. Sie bearbeitete den Fall Blankenagel. Es gab erste Hinweise auf eine Clique, die in der betreffenden und zwei weiteren Diskotheken junge Mädchen belästigte. Obwohl es nicht die erste Anzeige war, in der diese Jungen im Zuge der Ermittlungen in Verdacht geraten waren, gab es keinerlei Beweise.
Auf dem kleinen Beistelltisch vor ihr entdeckte Karin zwischen Zeitschriften einen offenen Briefumschlag. Name und Anschrift bestanden aus unterschiedlich großen Buchstaben aus Zeitungspapier. Gern hätte Karin danach gegriffen.
»Ich … will nicht mehr leben.«
Karin schloss die Augen, atmete tief durch.
»Was ist passiert?«
Lisa Blankenagel trocknete ihre Tränen und sah Karin mit einem Blick an, der Hoffnungslosigkeit und tiefe Depression in sich vereinte.
»Ich war vorgestern bei Ihren Kollegen, habe Anzeige erstattet.«
Die dünne Stimme war kaum wahrnehmbar, Karin rückte den Kopf näher an den Mund des Mädchens.
»Heute kam dieser Brief, es ist so … so … peinlich.«
Sie deutete auf den Brief in der Mitte des Tisches. Karin verstand die Geste als Aufforderung, nahm den Brief an sich. Neben einem kleinen Stapel Fotos enthielt er eine Nachricht, ebenfalls aus aufgeklebten Einzelbuchstaben bestehend. Karin las die Zeilen, bekam sofort eine Gänsehaut.
›Nimm die Anzeige zurück, oder die Fotos wir bringen ins Internet und an die Magazine! Und wir kriegen 5000 Euro für alle Bilder bis Freitag. CU‹
Karin betrachtete die ersten beiden Fotos. Ihr Mund wurde trocken, die Luftröhre zog sich zusammen, als habe ihr jemand einen Strick um den Hals gelegt und zog diesen langsam an. Lisa war splitternackt. Sie kniete gebückt auf dem Boden, stützte sich mit den Armen ab. Mit beiden Händen drückte jemand ihren Kopf auf sein Geschlechtsteil, während sich ein anderer an ihr verging. Auf einem anderen Foto war ihr Gesicht über und über mit Sperma bedeckt. Karin würgte. Die restlichen Bilder steckte sie ungesehen in den Umschlag zurück. Lisa, die Karin zugesehen hatte, versenkte das Gesicht in ihre Hände. Sie wurde so heftig von einem Weinkrampf geschüttelt, dass Karin Angst hatte, sie könne ersticken. Die Polizistin fühlte sich elend. Sie hatte dem Mädchen geraten, sich an die Polizei zu wenden. Sollten die Erpresser ihre Drohung wahr machen, würde die Intimsphäre des jungen Mädchens einem Antilopenkadaver in der Serengeti gleichen, über den sich eine Horde Hyänen hergemacht hatte. Karin musste den winzigen Rest Zuversicht mit ihr teilen und hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie das anstellen sollte.
»Mit diesem Brief kriegen wir sie. Bei Erpressung liegt die Aufklärungsquote am höchsten. Wir haben absolute Spezialisten auf dem Gebiet. Und wegen der Drohung brauchst du dir keine Sorgen machen. Kein Redakteur würde solche Bilder drucken ohne die schriftliche Einverständniserklärung aller auf den Fotos abgebildeten Personen.«
»Und was ist mit dem Internet?«
Das ist nicht kontrollierbar, von keinem Staat der Welt, wusste Karin.
»Das ist eine Drohung, falls du die Anzeige nicht zurücknimmst. Selbstverständlich werden wir die Forderung erfüllen. Die Ermittlungen in der Öffentlichkeit werden sofort eingestellt. Und spätestens bei der Geldübergabe packen wir sie.«
»Wirklich?«
»Ja, ganz bestimmt.«
Karin schämte sich. Sie wusste genau, dass das möglicherweise nicht stimmen würde. Sie mussten alle gleichzeitig bekommen. Sollte nur einer entwischen, würde es zur Katastrophe für Lisa Blankenagel kommen. Sie werden kaum so blöd sein und alle zur Geldübergabe erscheinen, dachte die Ermittlerin.
»Was dachten Sie? Ich meine, als Sie die Bilder gesehen
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