Willenlos
können. Diese vier Jahre waren zu einem uneinholbaren Vorsprung geworden. Er selbst war ein Zugereister in der Familie. Das Fell war verteilt, bevor er hatte daran teilhaben können. Leon, der jüngere Bruder, war vom Stiefvater längst zum Stammhalter erklärt worden. Er sollte Medizin studieren, später die Klinik übernehmen. Leon wurde es auch zugestanden, Lydia, die Tochter des Professors, zu ehelichen. Noch heute bildete er sich ein, dass Lydia immer nur ihn geliebt hatte. Drei Jahre hatte ihr Verhältnis angedauert, bis es auf tragische Weise endete. Er wollte nicht länger der Geliebte sein, hatte von ihr die Scheidung verlangt. Sie hatte ihn ausgelacht.
»Du kannst doch nicht glücklich sein an seiner Seite«, hatte er ihr gesagt.
»Das Glück ist nicht immer lustig«, hatte sie mit einem Zitat von Fassbinder geantwortet. Der Regisseur hatte mit diesem Satz sein Publikum auf den Film ›Angst essen Seele auf‹ vorbereiten wollen, Lydias Lieblingsfilm. Heute empfand er den Titel auf unangenehme Art passend.
Nach einem weiteren Schluck aus der Flasche betrachtete Ulrich Bartram die Bilder noch einmal. Die Ähnlichkeit war frappierend, Fremde hatten sie oft für Zwillinge gehalten. Lediglich das auffällige Muttermal neben seiner Nase unterschied ihn von Leon.
49
»Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«
Karins Augen glitten über das hellbraune alte Wasserschloss im Mönchengladbacher Ortsteil Rheydt. Joshua nickte, betrachtete dabei den efeuumrankten Turm neben dem Hauptgebäude. Der Eingang befand sich am Fuße eines weiteren anmutig wirkenden Turmes, auf dem vier imposante Spitztürme emporragten. Durch die prächtige Eingangshalle gelangten sie schließlich in die Verwaltung. Herr Pinola empfing sie mit einem geschäftsmäßigen Lächeln.
»Was führt die Polizei in unsere Klinik, ich hoffe doch, nichts Ernstes?«
»Wie man’s nimmt. Zum Zeitvertreib kommen wir jedenfalls nicht hierher. Wir müssen ein Alibi überprüfen. Es handelt sich um einen Ihrer ehemaligen Ärzte, um LeonBartram.«
Der Name bewirkte, dass sich Pinolas Gesichtszüge strafften. Kleine Sorgenfalten bildeten sich auf der Stirn des Verwaltungsleiters.
»Zweifellos ein dunkler Fleck in der Geschichte unserer Klinik. Tragische Sache, damals.«
»Ja. Wir möchten gerne wissen, um welche Uhrzeit Herr Bartram am 13. Februar 1991 die Klinik verlassen hat.«
In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen und Professor Dr. Bartram stürmte ins Zimmer. Der Informationsfluss funktionierte in dieser Klinik allem Anschein nach reibungslos.
»Darf ich fragen, warum Sie hier sind?«, fragte Bartram unangemessen laut, ohne ein Wort der Begrüßung.
»Ja bitte«, antwortete Joshua mit derselben Überheblichkeit. Bartram hatte nicht mit dieser Unverschämtheit gerechnet, rang nach Worten. Karin wiederholte ihr Anliegen.
»Das weiß ich doch heute nicht mehr. Glauben Sie, wir heben unsere Dienstpläne bis in alle Ewigkeit auf, was hat das überhaupt mit Ihrem Fall zu tun? Außerdem haben Ihre Kollegen hier damals mehr als genug rumgeschnüffelt. Was wollen Sie meinem Sohn denn noch anhängen?«
»Wir haben Grund zu der Annahme, dass einer Ihrer beiden Stiefsöhne damals unseren Kollegen Dahlmann korrumpiert hat. Ehrlich gesagt versuchen wir, Leon zu entlasten.«
Joshua fuhr herum. Karin spielte mit dem Feuer. Würde Bartram so weit gehen, seinen eigenen Stiefsohn zu belasten oder hatte seine Kollegin damit die Tür zugeschlagen? Zwar bestand die Möglichkeit einer Durchsuchung, aber diese würde nicht nur Aufsehen erregen, sondern viel Zeit in Anspruch nehmen. Joshua ärgerte sich. Zu seiner Verwunderung wechselte Bartrams Mimik von unausstehlicher Arroganz in Lässigkeit.
»Wenn das so ist, dann wollen wir mal sehen, was wir im Archiv finden. Folgen Sie mir bitte.«
Die Dienstpläne gaben wenig Auskunft. Ärzte unterlagen nicht der gewöhnlichen Arbeitszeiterfassung. Sie rechneten ihre Überstunden mithilfe eines Formulars selbstständig ab. Der Mediziner wirkte äußerst motiviert, wunderte sich Joshua. Aus einem Schrank, der aussah wie ein handelsüblicher Spind, nahm er zwei Akten mit dem Titel ›Behandlungsunterlagen Dr. L. Bartram‹. An einem alten Holztisch blätterte er darin.
»Das wird Ihnen weiterhelfen«, konstatierte der Mediziner, »13. Februar 1991. Letzte OP, Beginn 17.05 Uhr, Ende 17.40 Uhr, Patient: Frau Walburga Gödeke, abgezeichnet vom Assistenzarzt Dr. Hambrecht sowie
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