Willenlos
dem Anästhesisten Markwald und den OP-Assistentinnen. Ich würde daher vermuten, vor 18 Uhr kann mein Sohn die Klinik kaum verlassen haben. Ich hoffe eindringlich, Sie distanzieren sich nun von weiteren Ungeheuerlichkeiten meinen Sohn betreffend. Ich denke, die Polizei hat in dieser Hinsicht in der Vergangenheit genügend Schaden angerichtet.«
Karin und Joshua hatten sich an die Überheblichkeit des Mediziners gewöhnt. Sie standen hinter ihm, überflogen die aufgeschlagene Seite. Das Alibi ließ nur einen Schluss zu.
»Herr Professor Bartram, wie ähnlich sind sich Ihre Stiefsöhne?«
»Sie sind leibliche Geschwister, elf Monate auseinander. Wir konnten damals nicht sofort beide adoptieren, das Vormundschaftsgericht hatte wenige Wochen zuvor einer Adoption Ulrichs zugestimmt. Seine Adoptiveltern sind später gestorben, man ist mit der Bitte an uns herangetreten, Ulrich ebenfalls zu adoptieren, der wir nachgekommen waren.«
Er klang gereizt, in seinen Augen war Abneigung erkennbar.
»Sie sehen sich also sehr ähnlich.«
»Ja, aber sie sind es nicht.«
»Ist Ulrich ebenfalls Mediziner?«
Bartram lachte, Karin glaubte, Spott herausgehört zu haben.
»Er hat mal Psychiatrie und Neurologie studiert. Drei Jahre war er sogar an dieser Klinik tätig, bis der Neid ihn in den Alkohol getrieben hat.«
»Neid? Worauf?«
»Auf seinen Bruder. Er konnte nicht damit leben, als Assistenzarzt unter seinem jüngeren Bruder zu praktizieren.«
»Irgendwie verständlich, oder?«
»Leon hatte die Promotion mit summa cum laude erreicht, sein Bruder dagegen mit rite. Auch im praktischen Bereich war Leon wesentlich engagierter, was mich schließlich zu dieser Personalentscheidung als logische Konsequenz brachte. Ich hoffe, dass ich ihn bald wieder in unserer Klinik beschäftigen kann. Ulrich hatte diese Entscheidung nie nachvollziehen können, behauptet, wir hätten ihm keine Chance gegeben. In Wirklichkeit zeichnete sich Leons Begabung bereits in frühester Kindheit ab, sodass wir ihn in jeder erdenklichen Art und Weise gefördert haben.«
»Ulrich dagegen nicht?«, wollte Karin wissen.
»Ulrich hatte schon als Kind nur Flausen im Kopf.«
»Sag mal«, sie hatten den Parkplatz der Klinik bereits verlassen, »was hat dich eigentlich so sicher gemacht, dass Bartram anbeißt?«
Karin, der die Antipathie gegen den Professor anzumerken war, schob die Sonnenbrille über die Stirn und blickte Joshua ausdruckslos an.
»Die Wahl seiner Worte!«
Joshua bog auf die B 230, sie wollten noch einmal nach Linning. Karin klärte ihren Kollegen auf.
»Er hat zwei Stiefsöhne, aber nur Ulrich bezeichnet er so. Leon dagegen ist sein ›Sohn‹, sein Liebling, für den er alles tut. ›Leons Begabung hatte sich bereits in frühester Kindheit abgezeichnet‹, es ist zum Kotzen.«
Joshua folgte den Hinweisschildern, er kannte sich hier absolut nicht aus. Über die Glehner Straße fuhr er Richtung Büttgen, den Ort hatte er sich auf der Karte gemerkt.
»Sein Bruder hatte im Weg gestanden, beruflich und in der Familie. Ulrich wollte das weiße Schaf schwarz malen«, schloss Joshua.
»So könnte es gewesen sein«, bemerkte Karin, »aber bringt er dafür seine Schwägerin um?«
»Wenn es so war, hat es nichts gebracht. Selbst durch den Umstand, dass Leon Bartram wegen Mordes im Gefängnis saß, hatte er dessen Platz nicht einnehmen können. Damit dürfte er, wie wir den Stiefvater kennengelernt haben, auch kaum wirklich gerechnet haben. Nein, das ergibt keinen Sinn.«
»Warum sonst hätte er Dahlmann bestechen sollen? Dass Ulrich Bartram nach dem Mord bei Dahlmann war, dürfte jetzt wohl klar sein.«
Joshua grübelte, er hatte die Umgehungsstraße von Büttgen hinter sich gelassen und durchfuhr die Ortschaft Driesch. Zahlreiche Bagger und Kräne schufen ein großes Neubaugebiet. Am Straßenrand diskutierte ein Team des Westdeutschen Rundfunks. Joshua erreichte schnell den Ortsausgang und fuhr weiter durch Vorstnach Linning.
»Wozu dann die drei Morde? Die Rache war doch Leons Baby? Weshalb sollte Ulrich ihm diese Drecksarbeit abgenommen haben?«
»Weil der Stiefvater Leon wieder einstellen möchte, sobald Gras über die Sache gewachsen ist. Joshua, das muss für Ulrich ein Schlag ins Gesicht sein. Selbst als verurteilter Mörder wird sein Bruder ihm noch vorgezogen. Ulrich wird nur noch von dem Wahn getrieben, es seinem Stiefvater zu beweisen. Ihm deutlich machen, dass er all die Jahre aufs falsche Pferd gesetzt
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