Willkommen auf Skios: Roman (German Edition)
Sein Koffer hatte seine zentrale Bedeutung in seiner Konzeption der Welt längst eingebüßt.
»Und ein Taxi. Sie werden also Ihren wunderbaren Vortrag halten können.«
Ja, er würde seinen wunderbaren Vortrag halten können. Er zog sein Hemd an. Es war unter den Achseln und im Nacken noch feucht.
»Es wird unterwegs trocknen«, sagte sie. »Und Sie können ja auch im Taxi trockene Sachen anziehen. Jetzt, wo Sie Ihren Koffer wiederhaben.«
Langsam, während er die Knöpfe durch die feuchten Knopflöcher zwängte, formte sich ein Gedanke in seinem Kopf. Wenn Oliver nicht …
»Sie wollen nicht mitkommen?« sagte er. »Zu meinem Vortrag?«
»Was, wie sich alles auf einen Punkt mitten im Nirgendwo vor zehntausend Jahren zurückführen lässt?« sagte sie und wickelte das Handtuch fester um sich. »Danke vielmals.«
Er zog seine Hose an. Sie klebte auf eine Weise an ihm, die das Gehen erschwerte.
»Vor 13,7 Milliarden Jahren«, sagte er.
30
»Oliver?« sagte Annuka Vos und steckte den Kopf in alle Zimmer des Hauses. In ihrer Ungeduld hatte sie den Koffer stehenlassen, wo der Taxifahrer ihn abgestellt hatte, vor dem Tor. Abgesehen vom gespenstischen Summen der Klimaanlage war nichts zu hören. Einen Augenblick lang hatte sie geglaubt, von irgendwoher seine Stimme zu hören … Aber nein, nichts. Er schien ausgegangen zu sein. Wohin, um was zu tun? Einkaufen, schwimmen? Unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher war, dass er irgendwo Ärger machte. Es war absolut typisch für ihn, dass er auf keine ihrer SMS geantwortet hatte. Es hätte sie nicht gewundert, wenn er sie überhaupt nicht gelesen hätte. Nicht wusste, wann sie ankam. Oder auch nur, dass sie kam.
Gott, sie hatte dieses blöde Theater satt!
Keiner ihrer Freunde verstand, warum sie es mit ihm aushielt. Sie verstand es selbst nicht. Ja, eigentlich hielt sie es nicht mit ihm aus. Sie hatte ihn hinausgeworfen. Dreimal. Und trotzdem war sie hier, wieder einmal für einen letzten Urlaub. Keiner ihrer Freunde verstand, wie sie sich überhaupt mit ihm hatte einlassen können. Alle wussten, wie Oliver Fox war. Sie musste ihr Leben nicht mit einem Menschen wie ihm verschwenden. Sie war dunkel und füllig – die Sorte Dunkel und Füllig, in der Männer sich gern verlieren –, und sie hatte etwas durch und durch Geheimnisvolles. Niemand wusste, ob sie Finnin oder Brasilianerin war. Manche behaupteten, sie sei Perserin oder Lettin, doch sie schwieg dazu und lächelte nur ihr dunkles Lächeln. Sie hätte alles haben können, was sie im Leben wollte – einen reichen Mann, sechs geniale Kinder, eine Karriere als Bankerin. Doch de facto hatte sie Oliver Fox.
Ja, sie war ein Rätsel, Annuka Vos, vor allem sich selbst.
Aber das Haus war genau so, wie sie es sich erhofft hatte. Nachdem sich ihre Augen an die kühle Dunkelheit im Inneren gewöhnt hatten, inspizierte sie das Haus mit mehr Muße und fand Gefallen an jedem Raum. Das war wieder etwas, was die Leute an ihr nicht verstanden. Undurchschaubar, unenglisch, ja, doch zugleich schlicht, was Geschmacksfragen betraf, und prompt in ihren Reaktionen. Sie hatte von Natur aus einen Sinn für Ästhetik, war die geborene Innenarchitektin. Sie liebte die dunklen traditionellen Möbel im Wohnzimmer. Von Leuten wie Petrus und Persephone hatte sie selbstverständlich erwartet, dass sie genau solche Dinge für ihr Urlaubsdomizil sammelten. Sie liebte die irdenen Schüsseln und Teller, die Persephone getöpfert hatte, die von Petrus gemalten Aquarelle, die von der kleinen Petal handgenähten Puppen.
Es war natürlich absolut typisch für ihre Beziehung mit Oliver, dass es ihre Freunde waren, die ihnen das Haus zur Verfügung stellten. Sie schauderte bei dem Gedanken, wo sie gelandet wären, wenn sie sich darauf verlassen hätten, dass er irgendwo etwas auftat. Und wenn sie nicht die Tickets gebucht und alles arrangiert hätte, wären sie nirgendwohin gefahren. Und wenn ihr nicht zufällig der Vos-Familien-Konzern ein Einkommen gezahlt und sie nicht eine Wohnung gehabt hätte, die groß genug für sie beide war, wäre die Sache schon vor Monaten vorbei gewesen.
Was natürlich nur gut gewesen wäre. Das sagten alle. Sie wusste es selbst. Schließlich hatte sie ihn gnadenlos hinausgeworfen. Man wirft jemanden nicht dreimal hinaus, ohne zu einer ziemlich nüchternen Einschätzung seiner Unzulänglichkeiten in der Lage zu sein.
In der großen Landhausküche fand sie einen Zettel mit Petrus’ Handschrift, der sie aufforderte, sich
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