Willkommen auf Skios: Roman (German Edition)
Ankunft auf dieser grauenhaften Insel war alles schiefgegangen. Herrgott noch mal, er war Dr. Norman Wilfred! Nicht ein hilfloses Opfer von Mächten jenseits seiner Kontrolle, sondern ein rationaler Mensch in einer rationalen Welt! Er war etwas Besseres als das gewohnt! Er wurde verhöhnt und gedemütigt! Wie ein Bär am Nasenring vorgeführt von Ignoranz und Inkompetenz, von Zufällen und Missverständnissen, von Koinzidenzen und zwei Leberflecken auf einem Schulterblatt!
Der Koffer, die Verkörperung all seiner Frustrationen, lag neben ihm. Er öffnete das Fenster und warf ihn hinaus. Er prallte mit einem befriedigenden Knall gegen einen Felsen am Straßenrand, überschlug sich hinter dem Taxi mehrmals, ging auf und hinterließ eine lange Schleppe Kleidung im Staub.
Das Taxi blieb stehen. Stavros drehte sich um und schaute aus dem Heckfenster und dann zu Dr. Wilfred. Sein Mund stand ein wenig offen. Der Schild scheinbarer Indifferenz, den sich Taxifahrer gegen die launenhafte Unberechenbarkeit ihrer Fahrgäste zulegen, hatte eine sichtbare Delle erhalten.
»War nicht meiner«, sagte Dr. Wilfred.
Annuka trug die T-Shirts und die Hosen, die sie gebügelt hatte, zurück ins Schlafzimmer, hängte die Hosen in den Schrank und legte die T-Shirts in eine Schublade der Kommode. Sie fand kein Seidenpapier, das sie hätte dazwischenlegen können, aber vielleicht war das nicht allzu wichtig. Es war ja nur für eine Woche.
Sie wandte sich wieder dem hoffnungslosen Durcheinander von Kleidung auf dem Boden zu. Männer! Sie hob ein kleines orangerotes Kleidungsstück auf. Eine Unterhose. Eine orangerote Unterhose. Und limonengrüne. Himmelblaue. So winzige schwarze Unterhosen, dass es kaum mehr Unterhosen waren. Sie betrachtete sie überrascht. Die Unterwäsche, die Oliver sonst auf ihrem Boden verstreut hatte, war ganz anders gewesen. Seitdem sie ihn das letztemal hinausgeworfen hatte, war er wohl etwas verwildert.
Sie wollte sie bügeln, aber irgendwie blieb das Bügeleisen in der Luft darüber hängen. Orangerote Unterhosen, limonengrüne und himmelblaue, winzige schwarze Unterhosen, die kaum mehr Unterhosen waren – das waren keine Dinge, die sie mit einem Bügeleisen behandeln wollte. Wenn sie ihr gehört hätten oder einer anderen Frau, wäre es etwas anderes gewesen. Aber einem Mann …
Sie legte sie nachdenklich zusammen und räumte sie ungebügelt auf.
Stavros war aus dem Taxi gestiegen und zu der langen Schleppe Kleidung zurückgegangen, die sich von dem ausgeweideten Koffer den Weg hinaufzog. Dr. Wilfred sah keinen Grund, ihn zu begleiten. Er blickte auf die Uhr. Sie sollten weiterfahren. Der Adrenalinspiegel in seinem Blutkreislauf begann zu sinken. Was hatte Stavros vor? Was ging es ihn an, was seine Fahrgäste beschlossen, aus dem Fenster zu werfen?
Dennoch drehte er sich um und schaute zu. Stavros hob willkürlich Kleidungsstücke auf und ließ sie wieder fallen. Im Sonnenlicht wirkten ihre Farben kräftiger als tags zuvor im Flughafen. Jetzt hatte er etwas in der Hand, was wie ein Paar silberfarbener, mit Strass besetzter Schuhe mit hohen Absätzen aussah.
Unter der Männerkleidung, die er im Flughafen gesehen hatte, musste sich eine Schicht Frauenkleider verborgen haben. War Ms. Vos eine Doppelagentin? Eine Transvestitin? Eine Frau, die sich als Mann kleidete, der sich als Frau kleidete?
Stavros warf die Schuhe auf den Weg, wo die übrigen Kleider lagen, ging langsam zurück und stieg ins Taxi. Seine Miene war ausdruckslos.
Annuka hob den nächsten Haufen Kleidung auf dem Boden auf, um sie zu sortieren. Es war keine Kleidung. Es war ein Gazenetz. Meter über Meter zerrissener Netzstoff.
Einen Armvoll nach dem anderen hob sie auf. Nahm ihn erst in die eine, dann in die andere Hand und betrachtete ihn verwundert. Warum sollte Oliver einen halben Koffer voll zerrissenem Gazenetz für die Ferien einpacken? Oder auch einen halben Koffer voll nichtzerrissenem Gazenetz und es dann zerreißen?
Langsam dämmerte ihr die schreckliche Wahrheit. Es war ein Brautschleier.
Sie setzte sich aufs Bett, als hätte der Boden unter ihren Füßen nachgegeben. Der Oliver, den sie seit sieben langen und schwierigen Monaten kannte, war für etliche Überraschungen gut gewesen. Aber das hier war wieder etwas anderes. Jetzt musste sie sich einen Oliver mit der heimlichen Neigung vorstellen – ja, jetzt, da sie den Schleier gefunden hatte, war es offensichtlich –, Frauenunterwäsche und durchsichtige Brautkleider
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