Willkommen auf Skios: Roman (German Edition)
wichtig wäre.«
»Nicht wichtig?« sagte Yannis. »Wenn er allergisch ist? Wenn er schwillt und rote Flecken kriegt und erstickt?«
»Er ist nicht mehr allergisch«, sagte Nikki. »Leider.« Doch vor ihrem geistigen Auge sah sie nur die nassen Fußabdrücke vor ihrer Terrassentür.
Und nirgendwo eine Spur von ihm. Nicht, dass sie wusste, was sie zu ihm sagen würde, sollte sie ihn finden. Oder was sie tun würde.
Aber sie war wütend. Wütend auf ihn, weil er sie lächerlich gemacht hatte. Wütend auf sich selbst, weil sie es nicht verhindert hatte. Er hatte sich umgesehen und sie als sein Opfer auserkoren. Er hatte ihre professionelle Glaubwürdigkeit und alle ihre Hoffnungen für die Zukunft zerstört.
Was für einen Vortrag wollte er überhaupt halten? Hatte er sich irgendwie den Text des echten Dr. Wilfred beschafft? Oder würde er eine eigene Rede erfinden? Die Farce eines Vortrags? Einen scherzhaften Vortrag im Geist der Maskerade, die er aufgeführt hatte – und noch immer aufführte? Oder wäre es überhaupt kein Vortrag? Wenn der Augenblick käme, wenn er aufstehen müsste, würde er vielleicht einfach sitzen bleiben. Oder aufstehen und nichts sagen. Oder kurz vorher in der Dunkelheit verschwinden.
Aber wo war er bloß?
Und wo war der echte Dr. Wilfred?
Und wer von beiden würde in zwei Stunden aufstehen und den Fred-Toppler-Vortrag halten?
Und falls keiner von beiden aufstand, was dann …?
Als erstes musste sie natürlich Mrs. Toppler von den Geschehnissen in Kenntnis setzen. Und zwar noch bevor sie die lobhudelnde Einführung vorlas, die Nikki geschrieben hatte für jemanden, der gar nicht Dr. Norman Wilfred war. Oder auch für jemanden, der es war, vorausgesetzt, er tauchte plötzlich auf, wenn Mrs. Toppler glaubte, dass er es nicht wäre. Oder für überhaupt niemanden.
Aber wie konnte sie es ihr erzählen, wenn es das Ende ihrer Karriere bedeutete? Nicht, dass sie im Augenblick Direktorin der Fred-Toppler-Stiftung werden wollte. Oder in irgendeiner anderen Funktion hierbleiben wollte.
Oder irgendwo sonst auf der Welt sein wollte.
Hinter dem Bauzaun um den neuen Swimmingpool arbeiteten noch immer die Leute des Bauunternehmers, offenbar desinteressiert an allen Aspekten der europäischen Zivilisation außer den Geldstrafen, die bei Nichteinhaltung des Fertigstellungstermins fällig würden. Doch sie trugen zum intellektuellen Leben der Gemeinschaft insofern bei, als Chris Binns, der Writer-in-residence der Stiftung, aus dem Fenster seines Zimmers in Epiktet den Kipplastern zuschaute, die hinter dem Zaun auftauchten, und endlich eine Idee für ein Gedicht hatte.
Seit geraumer Zeit suchte er angestrengt nach einem Thema. Irgend etwas musste er schreiben, solange er hier war. Wenn man irgendwo Writer-in-residence war, musste man mit mehr zurückkommen als nur mit gebräunter Haut und einem Glas Honig aus der Gegend. Es wurde erwartet, dass man ein Gedicht verfasste oder vorzugsweise eine ganze Serie von Gedichten. Etwas, was auf die hiesige Landschaft anspielte, ja. Aber gewiss nicht nur zum Ausdruck brachte, wie blau der Himmel war und wie hübsch die Bougainvillea blühte. Es musste etwas sein, was sich dem Ort indirekt näherte. Auf rätselhafte, auf ironische Weise. Etwas, was Details der Geschichte und Mythologie des Orts anführte, die niemand sonst wusste. Was Fußnoten erforderte und Material für eine Arbeit lieferte, die ein Doktorand eines Tages über ihn schreiben würde. Er sah die Doktorarbeit deutlicher vor sich als das Gedicht. »Dieses eindringliche und schwer fassbare Werk wurde während des Sommers geschrieben, den Binns auf der Insel Skios verbrachte, und verknüpft die Krise kreativer Unproduktivität und existentieller Ziellosigkeit, unter der er damals litt, mit lebhaften Anklängen an den Genius loci von …«
Wovon? Das war das Problem. Von blauem Meer und lila Bougainvillea? All den lebhaften örtlichen Anklängen, die seit der Gründung der Stiftung verknüpft waren mit den spirituellen Krisen seiner Vorgänger?
Jetzt aber schien er das Problem geknackt zu haben. Das Gedicht sollte sich um die Figur der Athene drehen. Seine Idee bestand darin, dass die Arbeiter, die den neuen Pool aushoben, auf einen Tempel gestoßen waren, der anscheinend ihr geweiht war, und auf halb angedeutete, weitgehend unverständliche Weise den Geist der Göttin gestört hatten. Da sie, wie er bei seinen Recherchen im Internet herausgefunden hatte, nicht nur die Göttin der Weisheit,
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