Willkommen im sonnigen Tschernobyl
fünfzig identischen Metallkästen aufgestapelt, ging nun mit einem Akkuschrauber von einem zum nächsten und drehte bei jedem dieselben vier Schrauben heraus. Hinter ihm machten die anderen Arbeiter ordentliche Stapel: hier die Oberseiten, dort die Seitenteile, da die Halterungen, LCD -Bildschirme mit Flachbandkabeln daran – ein buntes Gewirr an einem tristen Nachmittag.
Lastwagen, beladen mit Halbleitern, stießen im Vorüberfahren Abgase aus. Eine Autorikscha, bepackt mit seltsamen grünen Objekten, fuhr an uns vorbei. Überrascht stellte ich fest, dass es Kohl war.
Wir blieben bei einem Lkw, der prall gefüllte Säcke geladen hatte, stehen. Ecken von gesäuberten Platinen lugten aus den Säcken. Rohmaterial für die geheimnisvollen Goldgewinner, wo auch immer sie zu finden waren. Die Männer, die den Lkw beluden, lächelten und fragten, woher wir kamen.
»Mei guo« , sagten wir. Amerika. »Was ist da auf dem Lastwagen?«
Ihr Lächeln fror ein. »Pappe«, antworteten sie. »Papier. Zum Recyceln.« Und sie stiegen in den Lkw und fuhren davon.
Eine Schar Jugendlicher überfiel uns und führte uns zu einem Kulturzentrum, in dem Lehrer aufsässige Musikschüler zu bändigen versuchten. Wir waren eine Sensation. Für einen Augenblick wusste ich, wie es ist, ein Rockstar zu sein, dessen Fans durch einen einzigen Blickkontakt mit ihm von hysterischen Krämpfen geschüttelt werden.
Unsere Entführer brachten uns zu einem nahe gelegenen Tempel. »Das ist unser Tempel«, sagten sie. Wir gingen durch die zerbröckelnden, geschmückten Räume, die von einem Aufgebot an Göttern und Halbgöttern bewacht wurden.
Ihr solltet hier beten, empfahlen sie. Zu diesem Gott. Wünscht euch was, während ihr euch hinkniet, die Hände aneinandergelegt und euch verbeugt. Das tat ich. Aber ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich um Frieden oder Liebe bitten sollte.
*
Am Abend waren wir mit der Sekretärin des örtlichen Unternehmerverbands – oder was auch immer – im Six Star Coffee Shop in Shantou verabredet, der großen Küstenstadt, in der wir unsere Unterkunft hatten. Das Six Star ging über zwei Ebenen, weit und breit nur Sofas, sogar die Dinger, die wie Hollywoodschaukeln an Seilen von der Decke baumelten. Hier trafen sich die Wohlhabenden und Weltgewandten von Shantou, um sich wohlhabend und weltgewandt zu fühlen. Die Karte war abwechslungsreich und vielversprechend und bot hilfreiche Beschreibungen auf Englisch. Mich reizte der »Irish Coffee – emotional, romantisch, geheimnisvoll«, dann entschied ich mich aber für einen Caffè Latte, wegen der »Samtigkeit der Milch mit Haselnuss-Spezialaroma. Gern von Männern getrunken.«
Die Sekretärin trug eine bauschige rote Jacke und eine stylische Brille. Sie hatte ihre Tochter mitgebracht, ein braves Mädchen mit großen Augen, das ein absurd großes Getränk in Pink bestellte. Es war überladen mit leuchtenden Trinkhalmen und einem enormen Fruchtstück, das kunstvoll geschnitten war und an einen springenden Buckelwal erinnerte. Ihre Mutter bestellte Früchtetee.
Cecily hatte für den Abend den »Wissenschaftler« als Alibi-Identität für mich ausgewählt. Zu meinem Erstaunen akzeptierte die Sekretärin das, ohne mit der Wimper zu zucken.
Wir wollen die Umwelt verbessern, sagte sie. Da sie allerdings ihre Stelle erst seit ein paar Monaten hatte, wusste sie nicht viel über die Branche, die sie vertrat. Vielleicht war das der Punkt. Eigentlich waren wir mit dem stellvertretenden Direktor des Verbands verabredet gewesen – bis er es sich anders überlegte und uns die Sekretärin andrehte. Sie wich einer Frage nach der anderen aus, indem sie versprach, uns Infomaterial zu schicken. (Was sie nie tat.)
Da sie selbst die Umwelt zur Sprache gebracht hatte, traute ich mich, ihr Fragen zu Schadstoffemissionen und Arbeits bedingungen zu stellen. Sie meinte, die Emissionen durch das Verbrennen von Leiterplatten seien das größte Umweltproblem.
Das bezweifelte ich. Die warmherzige, hilfsbereite und familiäre Atmosphäre in der Werkstatt der Hans zum Beispiel än derte nichts daran, dass diese höchstwahrscheinlich mit Blei-, Zinn- und Antimonstaub überzogen war, ganz zu schweigen von all den anderen Giftstoffen, die durch das Sägen und Brutzeln der Leiterplatten frei wurden. Wenn der kleine Lang und seine Schwester von der Schule kamen und in der Werkstatt halfen, unterstützten sie den Familienbetrieb, wurden dabei aber ziemlich sicher vergiftet. Damit standen sie
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