Willkommen im sonnigen Tschernobyl
stellvertretend für Guiyu und ein grundsätzliches Problem. Für ein ungebremstes Wirtschaftswachstum ließ China auch Bleivergiftungen zu, was besonders für Kinder gefährlich ist, deren Nervensystem und geistige Gesundheit dadurch dauerhaft beschädigt werden können. »In entwickelteren Staaten würde eine derartige Verbreitung von Bleivergiftungen höchstwahrscheinlich als Notstand der öffentlichen Gesundheit eingeschätzt«, schrieb die New York Times im Juni 2011.
Die Sekretärin erzählte uns, die Regierung habe begonnen, das Umweltproblem ernst zu nehmen, und der Unternehmerverband versuche, Investoren zu gewinnen und Partnerschaften einzugehen, um neue Technologien für sauberere Arbeit zu entwickeln. Wieder hatte ich meine Zweifel. Das Problem war nicht die Technologie: In der Elektroschrottindustrie würden so lange gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen herrschen, wie es sich anders wirtschaftlich nicht lohnte.
Die Sekretärin fragte mich, ob ich Ideen für neue Technologien hätte.
Ich? Vielleicht habe ich Cecilys Übersetzung falsch verstanden. Die Sekretärin fragte mich nach Ideen, wie Guiyu seine Arbeitsbedingungen ändern konnte? Oder nach Kontakten zu entsprechenden Institutionen? Was sollte ich sagen?
Ich lächelte vage und nickte, aber so, dass sich darin weder Verständnis noch Intelligenz zeigten.
»Nicht aus dem Stegreif«, antwortete ich.
»Es ist in Ordnung, dass Journalisten gekommen sind, um die Probleme ans Licht zu bringen«, sagte die Sekretärin und goss sich noch etwas Früchtetee ein. »Aber wichtiger als zu kritisieren ist es, Lösungen zu suchen.«
*
Am nächsten Tag besuchten wir die Hans noch einmal. Wir wollten uns bedanken und verabschieden. Außerdem freut man sich, wenn man in einer fremden Stadt, in der man niemanden kennt, irgendwo hingehen kann, wo die Leute einem zulächeln und Tee und Kekse anbieten.
»Bist du sicher, dass er kein Journalist ist«, fragte Herr Han Cecily.
»Ja, ja«, antwortete sie.
Inzwischen plagten mich massive Schuldgefühle. Herr Han war nicht dumm, auch wenn wir ihn mit unseren hanebüchenen Geschichten vielleicht so behandelt hatten.
Heute lud er uns zu allem Überfluss zum Mittagessen ein und ich schämte mich noch mehr. Wir saßen oben in der Küche um einen niedrigen Tisch herum und aßen Fleisch und Gemüse nach Sichuan-Art sowie ein scharfes Gericht mit eingelegten schwarzen Bohnen vom Bauernhof der Familie, auf dem die Eltern und übrigen Familienmitglieder der Hans noch lebten. Die Hans schickten ihnen regelmäßig Geld. Deshalb waren sie überhaupt nach Guiyu gekommen – es gab in ihrer Heimat nicht genügend Arbeit. Seit 15 Jahren waren sie nun hier und erzählten, dass die Einheimischen sie immer noch wie Außenseiter behandelten.
Unten wurden uns weiter zahllose kleine Teetassen serviert. Herr Han setzte sich vor den Computer und unterbrach den Film, der gerade lief, um die Rohstoffpreise zu kontrollieren. Der Bildschirm füllte sich mit Zahlen. Für Herrn Han war es wichtig, den aktuellen Goldpreis und den anderer Rohstoffe zu kennen, damit seine Abnehmer ihn nicht über den Tisch zogen. Auf seinem Computer hatte er auch die Aufnahmen der Überwachungskameras in der Werkstatt gespeichert. Ein paar Klicks und Lang und ich waren von oben zu sehen, wie wir uns über die Leiterplatten hermachten.
»Frau Han will wieder wissen, weshalb du nicht verheiratet bist«, sagte Cecily.
Sie hatten unzählige Male gefragt. Sie konnten ja nicht ahnen, dass ich mich das in meiner freien Zeit fast ununterbrochen selbst fragte. Ich nutzte diese Gelegenheit, wenigstens eine ihrer Fragen ehrlich zu beantworten.
»Sag ihnen, dass ich kurz vor der Hochzeit stand und die Frau es sich anders überlegt hat«, bat ich Cecily.
Sie übersetzte.
»Sie sagen, das sei schrecklich und ziemlich peinlich«, erklärte Cecily mir. »Aber das soll ich dir nicht übersetzen.«
»Haben sie vielleicht irgendeinen Ratschlag, wie ich eine gute Frau finden kann?«, fragte ich.
Herr Han nickte. »Nehmen Sie eine, die Sie liebt«, riet er. »Ob Sie sie lieben, spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, dass sie Sie liebt.«
Ich konnte mich nicht entscheiden, ob das ein furchtbarer oder ein tiefsinniger Rat war. »Sollten wir uns nicht beide lieben?«, fragte ich.
»Nehmen Sie eine, die Sie liebt und sich um Sie kümmert«, stimmte Frau Han mit ein. »Nehmen Sie nicht einfach eine, die Sie lieben. Wenn es Dinge gibt, die Sie an der Person nicht mögen, wird
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