Willkommen im sonnigen Tschernobyl
es Ihnen irgendwann gelingen, darüber hinwegzusehen und sie schließlich doch zu lieben.«
Sie erzählten uns ihre Liebesgeschichte. Herr Han hatte seine zukünftige Frau damals gedrängt, ihn auf ihrem Roller mit zur Arbeit zu nehmen. Sie hatten sich viele Liebesbriefe geschrieben. Frau Han sagte, sie hätte immer noch alle Briefe von ihm.
Cecily fragte, ob Herr Han auch alle Briefe aufgehoben habe. Herr Han schüttelte den Kopf und seine Frau verdrehte die Augen. »Männer sind nicht so romantisch«, sagte sie. »Sie bewahren solche Sachen nicht auf.«
Herr Han lächelte und zeigte sich auf die Brust. »Ich habe sie hier drin«, sagte er. »Dort verwahre ich sie.« Alle lachten.
Wir standen auf, um zu gehen, winkten Herrn Hans Schwa ger zu, der die letzten Leiterplatten von Langs Hügel der letzten Tage bearbeitete. Lang und seine Schwester waren in der Schule, denn in Guiyu gehen die Jawas wochentags zur Schule.
Im Vorraum sog ich den Geruch von heißen Platinen ein. Er erinnerte mich an etwas, das Herr Han mir gesagt hatte, als ich wissen wollte, ob er glaube, die Arbeit bedrohe seine und die Gesundheit seiner Familie.
Uns ist klar, dass es ein schmutziges Geschäft und ein Gesundheitsrisiko ist, hatte er geantwortet. Man muss geben, um zu bekommen.
Als wir sie verließen, stand er im Eingang der Werkstatt und begutachtete zwei neu eingetroffene Stapel Motherboards. Die nächste Charge. Er hatte sie an der Seite aufgeschlitzt und frische, noch unberührte Schaltkreise purzelten heraus.
*
Am Flughafen von Peking drangen Sonnenstrahlen durch einen dicken Smogvorhang. Vor ein paar Jahren noch hatte die chinesische Regierung wegen der Olympischen Spiele alles Erdenkliche getan, um den berüchtigten Smog in der Stadt zu reduzieren. Was tut man nicht alles für den Debütantinnenball. Für reduzierten Smog war das hier jedoch immer noch ziem lich beeindruckend. Schon auf unserem Weg nach Guiyu vor ein paar Tagen war mir der Dunst hier am Flughafen aufgefallen.
»Ist das der berühmte Pekinger Smog?«, hatte ich Cecily gefragt.
Sie sah aus dem Fenster. »Ich glaube, das ist nur, weil es heute irgendwann noch schneit. Es ist Schnee angesagt.«
»Vor-Schnee-Dunst?«
»Ich denke schon«, sagte sie.
»Nein, Cecily«, sagte ich, um die Spielregeln klarzustellen. »Das ist Umweltverschmutzung, okay?«
Nun, auf dem Rückweg, verzichtete sie auf den Schneevorwand und erwähnte stattdessen, man habe Nebel angekündigt.
»Seit drei Tagen ist es schon neblig«, meinte sie.
»Versmogt«, sagte ich.
»Neblig.«
»Versmogt.«
»Neblig.«
Sie gab keinen Millimeter nach. Später am Abend jedoch, als wir uns in unsere Hotelzimmer zurückgezogen hatten, schickte sie mir eine SMS, um mir zu sagen, in den Fernsehnachrichten hätten sie berichtet, dies sei der Tag mit dem bisher schlimmsten Smog des Jahres gewesen. Gewonnen, Cecily.
*
Mitten in der Nacht. Neben dem Highway zog Blade-Runner-mäßig das flackernde Glühen einer gedrungenen Raffinerie im Dunst vorbei. Wir betrachteten es aus Lius stockdunklem Taxi.
Die schmutzigste Stadt der Welt. Das Licht entgegenkommender Scheinwerfer krümmte sich in der dicken Luft. Wir fuhren nach Linfen – auf einen mehrspurigen Highway durch die Außenbezirke der Stadt, einer leeren Allee mit Straßenlaternen in unglaublich dichtem Smog. Wir passierten ein Schild: WILLKOMMEN IN LINFEN . Ein schwer mit Kohle beladener Lastwagen fuhr direkt vor uns auf die Straße. Ein Kohlebrocken löste sich und zerfiel auf der Straße zu Staub, gesellte sich zu den anderen schwarzen Flecken, die den Weg früherer Kohle-Lkws markierten.
Linfen ist eine Bergbaustadt und sagenhaft dreckig. Kaum jemand außerhalb Chinas hat je von dem Ort gehört, wenn nicht wegen der dort herrschenden Umweltverschmutzung. Das war auch der einzige Grund, weshalb ich davon erfahren hatte und weshalb Sie jetzt darüber lesen. Linfen befindet sich im Herzen von Chinas Kohleprovinz Shanxi. Doch ein Besuch in Linfen ist nicht nur eine Zeitreise, die einen daran erinnert, wie die Industrie städtisches Umfeld im einstigen Amerika und Europa geprägt hat. Linfen ist auch ein passendes Symbol für das, was China der globalen Umwelt antut – dasselbe, was wir hundert Jahre lang getan haben.
Sehen wir uns mal ein paar Zahlen an. Chinas Kohleverbrauch hat sich im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends auf über drei Milliarden Tonnen verdoppelt. Das ist fast die Hälfte des Bedarfs der gesamten Welt. Etwa drei Viertel
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