Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
Vom Netzwerk:
ursprünglich zur Landbewässerung gedacht, doch ein immer größer werdender Teil des umgeleiteten Wassers wird für die Wasserversorgung der Städte genutzt, insbesondere Delhis. Die Bevölkerung der Hauptstadt ist in den letzten fünfzig Jahren über sechshundert Prozent gewachsen und damit stieg auch der Wasserverbrauch drastisch an.
    In Indien, wie an so vielen Orten, ist der Streit um Wasser der Grund für unzählige politische Schwierigkeiten und Umweltprobleme. In diesem Fall geht es darum, dass Bauern als Ausgleich für das Wasser, das in der Megalopolis flussabwärts verschwindet, ungeheuer viel Grundwasser hochpumpen. Die Wasserentnahme ist mengenmäßig so groß, dass der Grundwasserspiegel dadurch mittlerweile unterhalb des Flussbetts liegt, was bedeutet, dass die Yamuna südlich von Hathnikund direkt im Boden versickert. Der Fluss trocknet aus. Außer in den Monaten der Regenzeit existiert die Yamuna kurz vor Delhi praktisch nicht mehr.
    Da es andernfalls im Flussbett einfach verschwinden würde, wird das für Delhi bestimmte Wasser über den Munak-Ablauf, einen Zweig des westlichen Yamuna-Kanals, der selbst eine Por tion industrieller und häuslicher Abwässer abbekommt, transportiert. Hinter dem Wazirabad-Staudamm, am nördlichen Rand Delhis, sammelt sich das Wasser. (Hier fließt ausgerechnet Wasser des Ganges zu, wodurch dieser ein Nebenfluss eines seiner Nebenflüsse wird.)
    Dank dieser Zuflüsse führt der Yamuna-Fluss bei Wazirabad überhaupt Wasser. Aber dieses Wasser fließt nicht wie einst in südlicher Richtung nach Delhi hinein, sondern wird abgepumpt und aufbereitet und bildet so die Basis der Wasserversorgung der Stadt.
    Doch es gibt Wasser, das vom Wazirabad-Staudamm die 14 Kilometer durch das Herz Delhis fließt. Für diesen Abschnitt nutzt die Yamuna die Stadt selbst als Quelle: Fast vier Milliarden Liter Abwasser fließen täglich in den Fluss, das meiste davon stammt aus Privathaushalten und mehr als die Hälfte ist komplett ungeklärt.
    Wenn Aktivisten vor Ort die Yamuna als Abwasserkanal bezeichnen, ist das also keine bloße Rhetorik. Außerhalb der Regenzeit hätte Delhi ohne dieses Abwasser keinen Fluss.
    Es ist auch keine große Übertreibung, wenn die Leute die Yamuna als tot bezeichnen. Der Gehalt an gelöstem Sauerstoff im Fluss (ein guter Indikator für seine Kapazität als Lebensraum) beträgt hier etwa ein Zehntel des niedrigsten von der Regierung festgelegten Standards. Die Anzahl coliformer Bakterien (die die mikrobielle Gefährlichkeit eines Gewässers anzeigt) ist unvorstellbar hoch. Die von der indischen Regierungen festgelegte Obergrenze für sicheres Baden beträgt fünfhundert coli forme Bakterien pro hundert Milliliter Wasser. In Delhi hat man stellenweise über 17 Millionen gezählt.
    Die Rudergabeln quietschten und klapperten, während Ravinder ruderte. Er trug ein Levis-T-Shirt und blaue Jogginghosen. Der leblose Fluss war friedlich, fast beschaulich. Eine leichte Brise milderte den Abwassergestank.
    »Wer hat dir gesagt, dass dies Wasser ist?«, fragte er. Als er noch ein Kind war, habe er bis auf den Boden des Flusses hinunterblicken können. Nun konnte man kaum zwei Handbreit tief sehen und pechschwarze Jauche wirbelte an die Oberfläche, als wir durch flacheres Wasser fuhren. Dort, wo die Ruderblätter den Boden berührt hatten, waren sie schwarz.
    Ravinder war an den Ufern der Yamuna aufgewachsen und lebte immer noch in einem der wenigen Viertel direkt am Fluss. In den rund dreißig Lebensjahren des Mannes hatte sich der Fluss verändert. »Früher gab es viele Schildkröten hier, aber die Leute verkauften sie. Es gab auch Fische und Schlangen«, sagte er. »Aber nun fließt hier nur noch Abwasser hindurch.« Obwohl er wenige Schritte vom Fluss entfernt wohnte, badete er nicht darin und erlaubte es auch seiner Familie nicht. Nur im Juli und August, während der Regenzeit, gingen sie ins Wasser. »In dieser Zeit ist der Fluss sehr schön«, sagte er. »Aber einen Monat später ist es schon wieder vorbei.«
    Ravinder verdiente sein Geld, indem er Menschen auf den Fluss hinausbeförderte, wo sie Opfergaben und Asche von Leichenverbrennungen ins Wasser ließen. Manchmal verdiente er tausend Rupien pro Tag – etwa zwanzig Dollar. Manchmal nichts.
    »Heute habe ich zwei Leute auf den Fluss gefahren, die achtzig Kilo Holzkohle hineinwarfen«, erzählte er. »Ein Priester hatte sie dazu aufgefordert. Sie beschworen den Namen der Sonne und der Yamuna und warfen

Weitere Kostenlose Bücher