Willkommen im sonnigen Tschernobyl
ein paar Handvoll Kohle in den Fluss. Dann leerten sie die Säcke ganz aus. Morgen früh fahre ich ein Paar, das 120 Fische in den Fluss werfen wird.«
»Lebendig?«, fragte ich.
»Ja, lebendig«, antwortete er.
Kakoli schüttelte den Kopf. »Diese Fische werden sterben.«
Ein Plakat mit einer blauhäutigen Gottheit darauf schwamm flussabwärts. Bevor ich erkennen konnte, ob es Shiva oder Krishna war, erfasste ein Ruder das Papier, faltete es und tauchte es in das schwarze Wasser.
Zwei Männer badeten in Ufernähe. Eine Möwe flog über un sere Köpfe. Flussaufwärts sahen wir einen Greifvogel, dann eine Seeschwalbe. Hinter Ravinders rechter Schulter kam Nigam bodh Ghat in Sicht – eine Verbrennungsstätte. Drei Scheiterhau fen brannten am Ufer, verdichteten die Luft zu Hitzeknäueln.
Die Verbrennungsstätte ist einer der wenigen belebten Orte am Flussufer, und man kann dort erstaunlicherweise gut einen entspannten Morgen verbringen. Kakoli und ich waren schon hier gewesen, bevor wir flussabwärts nach Ravinder Ausschau gehalten hatten. Wir hatten auf einer der großen Betonstufen gesessen und eine Gruppe junger Männer beim Aufschichten eines der jetzt brennenden Scheiterhaufen beobachtet. (Ganz in der Nähe befand sich ein Gaskrematorium, aber niemand, der bei Verstand war, wollte in einem feuchtkalten, geschlossenen Krematorium verbrannt werden. Nicht, solange die Familie sich das Holz leisten konnte, um einen am Flussufer zu verbrennen.)
Auf einer Palette lag ein Mann in weißes Tuch gewickelt, nur der Kopf war unbedeckt. Sein Gesicht war alt. Er war tot. Die Jüngeren ließen Wasser aus einer Plastikflasche über ihn tröpfeln und streuten Erde auf seinen Körper. Dann vollendeten sie den Bau des Scheiterhaufens, indem sie Bretter und Zweige wie zu einem gut einen Meter hohen Tipi um den Mann zusammenstellten. Es war zehn Uhr morgens.
»In Kalkutta baden die Leute immer noch im Fluss«, sagte Kakoli. »Sogar die Reicheren. Aber in Delhi sehen sie ihn nicht einmal an. Hier gehen sie nur für die Verbrennungen zum Fluss.«
Ein junger Mann in einer schwarzen Hose und einem roten Pullover lief mit einem Stück brennenden Holzes einmal um den Scheiterhaufen herum. Wahrscheinlich war er der Sohn des Verstorbenen. Am Kopfende des Scheiterhaufens blieb er stehen und entzündete ihn von unten. Eine dünne Rauchspur stieg auf. Das ist der Weg allen Fleisches – wir werden nicht zu Staub, sondern gesellen uns zu unseren Emissionen in der Atmosphäre. Der junge Mann und seine fünf Begleiter zogen sich auf eine der Betonstufen zurück und warteten, wobei sie zwanglos plauderten. Der Scheiterhaufen würde mehrere Stunden brauchen, um abzubrennen.
Als wir mit dem Boot an den Scheiterhaufen vorbeifuhren, fielen mir zwei Männer auf, die bis zu den Knien im Wasser standen und schaufelweise Schlamm herausholten. Sie sammelten die Asche ein, die vom Ufer aus ins Wasser geworfen worden war. Unter Umständen haben die Verbrannten Ringe getragen oder sind mit anderen wertvollen Gegenständen geschmückt worden, bevor sie auf den Scheiterhaufen gelegt wurden. Diese Männer durchwühlten nun die nasse Asche auf der Suche nach Verwertbarem. Etwa Goldkronen?
Ich fragte Ravinder, ob das nicht, na ja, unhöflich war.
Er runzelte die Stirn, sah zu den Männern am Ufer hinüber und sagte: »Nein.« Das gelte nicht als respektlos.
Südlich der Verbrennungsstätte begegneten wir einer dunkelhäutigen Frau in einem olivfarbenen Sari. Sie kauerte auf einem großen, mit Styroporteilen vollgestopften Plastiksack, der an einem Holzrahmen befestigt war. Ihr Floß neigte sich stark nach vorn, weil sie dort auf der Kante hockte und mit einem kurzen Ruder im Wasser herumstocherte.
Sie hieß Mamta und lebte mit ihrem Ehemann am gegenüberliegenden Ufer. Sie verdienten ihren Lebensunterhalt damit, die Wasserkante nach Papier, Plastik und allem anderen, was sie an die Recycler verkaufen konnten, abzusuchen. Auf ihrem Floß war der morgendliche Fang ausgebreitet: mehrere Kokosnüsse, ein paar Broschüren, eine einzelne Plastiksandale.
Sie starrte aufs Wasser, während sie meine Fragen beantwortete. Sie seien seit zehn oder 15 Jahren in Delhi, sagte sie. Vor acht Jahren habe die Regierung sie aus der Barackenstadt, in der sie dort lebten, vertrieben. Nun wohnten sie vorübergehend in einer Hütte im Überschwemmungsgebiet. Jedes Jahr, wenn der Fluss zur Regenzeit anstieg, mussten sie sich auf nicht überflutetes Land zurückziehen. Als
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