Willkommen im sonnigen Tschernobyl
ich sie nach ihrem Alter fragte, zögerte sie. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie schließlich. »Aber ich glaube, ich bin 25 oder 26.« Dann fuhr sie weiter flussaufwärts und stocherte mit ihrem Ruder durch den dichten Blumen- und Müllteppich, der sich ans Ufer schmiegte.
Ravinder fuhr uns wieder in die Flussmitte. Dort hörte er auf zu rudern und ließ das Boot treiben. Er schlug die Beine übereinander und holte ein Päckchen Tabak hervor. »So viele Menschen sind nach Delhi gezogen und der Schmutz, der in den Fluss gelangt, ist mit der Stadt angewachsen. Aber es gibt nach wie vor nur eine Yamuna.«
Trotzdem glaubte er noch an den Fluss. Yamuna sei eine Göttin, sagte er. Manchmal verdiente er vielleicht anderthalb Wochen gar nichts, dafür dann aber an einem Tag genug, um das auszugleichen. »Die Yamuna nimmt nicht, sie gibt«, sagte er.
Mit diesen Worten steckte er sich etwas Tabak in den Mund, und wir ließen uns noch eine Weile treiben, drehten gemächliche Kreise in der leichten Brise.
*
Wo Flüsse oder Seen in Indien sind, gibt es auch Ghats: breite Stufen am Ufer, die hinunter ins Wasser führen. Ghats sind ein unverzichtbarer Teil der heiligen indischen Liebesgeschichte mit dem Wasser; seit jeher sind sie Orte der Andacht, für rituelle Bäder und nicht rituelles Schwimmen, zum Wäschewaschen und – wie am Nigambodh Ghat – zum Verbrennen der Toten und auch sonst für so ziemlich alles, was man am Flussufer tun kann. In Delhi gibt es jedoch nur wenige Ghats. Die Sechzehn-Millionen-Stadt hat kaum Stellen wie Ghats oder Ähnliches, an denen die Leute mit dem Fluss in Kontakt treten. Ich machte mich auf den Weg zu den wenigen, die es gab.
Im Süden Delhis muss die Yamuna ihren Lauf wieder ändern. Die Okhla-Staustufe lenkt sie um in den Agra-Kanal, wodurch sie die wenig beneidenswerte Funktion der Wasserversorgung der Stadt von Taj Mahal übernehmen muss. Wenig oberhalb der Sperre befindet sich am Ufer der Stadtpark Kalindi Kunj. Im Gegensatz zu vielen anderen Flussparks gelangt man vom Kalindi Kunj nicht direkt ans Wasser. Ein Zaun umgibt ihn und hält die Besucher vom ruhigen Fluss mit seinem Müll fern. Da ich nicht bereit war, über einen zweieinhalb Meter hohen Palisadenzaun zu klettern, beschränkte ich mich darauf, durch den grünen Park zu spazieren.
Dort wimmelte es nur so von jungen Pärchen, die leidenschaftlich Händchen hielten. An jeder Ecke stolperte ich über zwei Turteltäubchen. In einer Stadt, in der die jungen Leute keine eigenen Wohnungen oder Autos besitzen, in die sie sich zurückziehen können, gehen sie in den Park. Unter Paaren ist es hier derart verbreitet, sich in Parks oder an historischen Monumenten zu verabreden, dass man manchmal den Eindruck haben könnte, die Stadtverwaltung habe diese Plätze als offizielle Knutschorte ausgewiesen.
Man möchte meinen, das hätte mich – wie vieles andere auch – in einen Strudel aus Liebeskummer reißen müssen. Doch es gab, ganz im Gegenteil, eine Atempause. Seit ich in Delhi angekommen war, hatte es mich beschäftigt, wie indische Männer und Frauen in der Öffentlichkeit miteinander umgingen beziehungsweise eben nicht. Die große Mehrheit der Inder lebt in Bezug auf Sexualität nach sehr konservativen Sitten, und das hatte mich ziemlich deprimiert.
Vielleicht lag es auch an den dramatischen Zahlen über Kindesmissbrauch in Indien, die ich kürzlich gehört hatte. In diesem Land leben über vierhundert Millionen Kinder, fast ein Fünftel der Weltbevölkerung unter 18, und nach offiziellen Angaben wird die Hälfte von ihnen sexuell missbraucht. Unglaubliches Indien, Land der Kontraste, ertrinkt in Grausamkeit.
Ich musste jedes Mal daran denken, wenn ich die Metro in Delhi betrat. Männer und Frauen fahren dort in getrennten Wagen – was ja auch schon etwas aussagt –, und während wir einstiegen, dachte ich daran, wie diese Kinder aufwuchsen, was die anderen männlichen Fahrgäste mit sich herumtragen mussten, was sie unter Umständen getan hatten, und dass Hun derte Millionen Leben von dieser Epidemie an sexueller Gewalt zerstört wurden. Noch bevor die Bahn die Station verließ, hatte ich die Überzeugung gewonnen, dass Männer geboren waren, um grausam zu sein und dass kein Mensch, Frau oder Mann, jemals der alles zerstörenden Spirale aus Verrat und Einsamkeit entkommen könne.
Ich war wirklich deprimiert.
In Kalindi Kunj war es jedoch anders. Vielleicht gab es doch noch – ein klein wenig – Hoffnung
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