Willkommen im sonnigen Tschernobyl
für eine liebevolle Koexis tenz der Menschen. Unter jedem zweiten Baum saß ein Paar, das sich leise unterhielt, lachte, Händchen hielt und sich küsste. Wo man hinsah fuhr jemand mit der Hand durch das Haar des Partners oder hatte jemand den Kopf in den Schoß des Geliebten gelegt. Trug die Frau einen Sari, verhüllte sie manchmal beider Köpfe mit dem Schleier. Wer weiß, was sich in diesen Mikrozonen der Privatheit abspielte? Alle waren verknallt. An einem wunderschönen Frühlingstag, knapp dreißig Meter vom verschissensten Fluss der Welt entfernt, glaubte ich für eine Weile an die Liebe.
*
Oben bei der Brücke am Interstate Bus Terminal gab es früher auch Ghats, aber aus einem nicht ersichtlichen Grund zerstörte die Regierung sie kurz nach der Jahrtausendwende. Nun dient die Überführung als eine Art hochgelegenes Drive-in-Ghat. Wie auch bei anderen Brücken, die über den Fluss führen, halten die Menschen Tag und Nacht dort an, um Opfergaben oder Müll ins Wasser zu werfen. Es ist nicht einfach, das religiöse Ritual vom Vermüllen zu unterscheiden.
Meine Freundin Mansi hatte ihre Kamera mitgebracht und wir verbrachten den Morgen unter der Brücke, wo ein völlig zugemüllter Abhang hinunter zum Fluss führte. Alle ein oder zwei Minuten regnete es in wildem Durcheinander Blumen von der Brücke oder eine volle Plastiktüte traf mit einem nassen Plop aufs Wasser. Dann blickten wir nach oben und manchmal sahen wir einen Motorradhelm über die Brüstung ragen. Die Stadtverwaltung hatte auf den meisten Brücken Zäune errichtet, damit die Leute weniger Opfergaben hinunterwarfen, doch die unvermeidliche Folge war, dass sich im Zaun lauter Blumen und Tüten verfingen, weil sie trotzdem geworfen wurden. Hier hatten die Leute jedoch eine ungeschützte Stelle gefunden, an der sie ungehindert ihre Opfergaben werfen konnten. Es war dieselbe Art sorgloser Zeremonie, wie ich sie an den Verbrennungsstätten beobachtet hatte, eine Heiligkeit, die sich nicht um Ästhetik scherte.
Und wie an den Verbrennungsstätten wird alles Wertvolle, das ins Wasser gelangt, auch wieder herausgefischt. Überall, wo Opfer gebracht werden, gibt es Münzsammler, Männer, die den Grund des Flusses mit ihren Händen absuchen. Sie werden zwar Münzsammler genannt, aber ihr Recycling religiöser Gaben ist breit angelegt, und sie sammeln im Grunde alles, was man verkaufen oder wiederverwerten kann.
Die Sonne war gerade erst aufgegangen, sie stand trüb über der Yamuna, und am Ufer beendeten vier Sammler ihre morgendlichen Verrichtungen, bevor sie an die Arbeit gingen.
»Im Sommer«, sagte einer von ihnen zu mir, »ist der Geruch so streng, dass einem die Augen tränen.« Er hieß Jagdish und betrieb das Geschäft der Opferentnahmen seit fast zwanzig Jahren, seit seiner Jugend. Damit verdiente er genug, um seine Frau und seine zehnjährige Tochter zu ernähren.
Jagdish spulte eine Liste der Gegenstände ab, die man hier im Wasser finden konnte: Gold- und Silberringe, Goldkettchen samt Anhängern mit religiösen Motiven, Münzen mit Abbildungen von Göttern. Aber so reich war die Ausbeute nur ab und zu. »Wenn das jeden Tag passieren würde, wäre ich nicht mehr hier«, sagte er. Fand er Kohle, verkaufte er sie an die Männer, die am Straßenrand Wäsche bügelten. Fand er Papier, verkaufte er es fürs Recycling. Kokosnüsse verkaufte er an Straßenverkäufer oder, wenn sie trocken waren, an Leute, die Öl pressten.
Wenn man der Yamuna opfert, ist das also keine bleibende Übertragung spirituellen Vermögens, sondern man wird damit Teil eines Kreislaufs – die Opfergaben werden morgens in den Fluss geworfen, nur um wieder herausgefischt, wiederverkauft und nachmittags erneut geopfert zu werden.
Jagdish bearbeitete diesen Uferabschnitt gemeinsam mit seinem Bruder und zwei anderen Männern. Er lebte fünf oder sechs Kilometer entfernt, aber sein Bruder Govind wohnte hier am Wasser in einer winzigen, zeltähnlichen Hütte. Govind, ein freundlicher Mann mit grüner Baseballkappe, war wie sein Bru der Ende dreißig. Er erklärte, das Wasser sei zu dunkel, um bis auf den Grund sehen zu können, deshalb arbeiteten die Sammler sich tastend voran und hoben Hände voll Schlamm hoch, um ihn zu untersuchen. Govind war kein guter Schwimmer, deshalb watete er nur bis zum Hals im Wasser. Wenn nötig, tauchte sein Bruder.
Eine Plastiktüte mit Müll oder Opfergaben fiel von der Brücke herunter. Mitten im Schmutz lag Jagdishs zahme Äffin Rani auf
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