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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
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einfach tun. Selbst die klügsten Menschen schreiben gedankenvolle, wohlklingende Prosa, die dennoch auf Indien, Land der Kontraste hinausläuft. Was soll das bedeuten? Gibt es sonst auf der Welt keine Kontraste? Ich glaube, was man damit sagen will, ist: Indien, viel chaotischer und weniger homogen, als ich es gewohnt bin.
    Während der sechs Monate in Delhi hatte ich die Stadt sehr gemocht – den Lärm, die Gerüche, die Energie auf der Straße. Solche Dinge schrieb ich nach Hause. Selbst in dem unspektakulären Tumult beim Zugticketkaufen hatte ich geschwelgt. Aber wie man so schön sagt, enthüllt das, was ein Reisender schreibt, mehr über ihn als über den Ort, an den er gereist ist. Beim letzten Mal hatten an jeder Straßenecke Kuriosität und Selbstständigkeit ihre staubigen Blüten getrieben. Nun, Jahre später, sah ich Delhi wieder und fragte mich, ob es nicht möglich wäre, einfach alles zu verschlafen. Das ganze triste, mittelmäßige Delhi.
    Aber es lag nicht nur an meiner Perspektive. Delhi hatte sich verändert in den letzten zehn Jahren. Das wurde mir zumindest gesagt.
    »Oh!«, sagten die Leute. »Delhi hat sich sehr verändert!« Selbst die Fahrer der Autorikschas erzählten mir, wenn sie Englisch sprachen, wie schlimm der Verkehr geworden sei – als hätte es 2002 keine Staus in Delhi gegeben. Und dieselben Rikschafahrer schmollten immer noch, wenn man sich nicht so übers Ohr hauen ließ, wie sie es geplant hatten.
    Delhi war also immer noch als Delhi erkennbar. Aber es stimmte – ein paar Umgestaltungen hat es gegeben. Seine eli tären Shopping Malls suggerierten inzwischen überzeugender, man könne sich auch in Amerika befinden. Das Restaurant Evergreen Sweet House besaß nun drei Stockwerke und eine Klimaanlage. Die gehobenen Viertel der Stadt waren minimal sauberer als vorher und enttäuschend frei von wilden Tieren. Die Tiere auf der Straße waren immer eine der Hauptattraktionen von Delhi gewesen, aber nun musste man sich anstrengen, dieses Klischees dort überhaupt noch zu finden. Um zu sehen, wie ein paar Kühe die Straße blockieren, hätte man wohl bis nach Tughlakabad laufen müssen.
    Die offensichtlichste Veränderung war die Metro, deren Strecken sich viel schneller und effektiver in die Stadt gegraben hatten als erwartet. Sie fuhr nun bis in die Vorstadt Gurgaon, die rund 15 Kilometer südöstlich der Stadt lag. Eine U-Bahn nach Gurgaon, unglaublich! Der Erfolg der Metro scheint auch die Stadt überrascht zu haben. In einem Land, in dem öffent liche Bauarbeiten oft schwerfällig, ineffektiv und korrupt laufen, vollzog sich der U-Bahnbau sauber, effizient und billig.
    Ob sich die Yamuna verändert hatte, konnte ich nicht sagen. Ihre Ufer lagen nur wenige Kilometer von meiner damaligen Wohnung entfernt, aber zu jener Zeit war mir nur vage bewusst, dass es in Delhi einen Fluss gab. Diese Ignoranz war jedoch angemessen, denn Delhi hatte der Yamuna schon lange den Rücken gekehrt. Mittlerweile spielte der Fluss im Leben der Stadt nur noch als Objekt der Vernachlässigung und des Ekels eine Rolle.
    *
    Am Ufer gab ich einem Mann namens Ravinder ein paar Hundert Rupien und wir fuhren mit seinem flachen Holzruderboot los. Ich saß neben Kakoli, meiner Dolmetscherin für jenen Tag, und starrte über den Rand, während Ravinder ruderte. Auf der Wasseroberfläche ergaben wogende Grautöne einen dunklen Farbverlauf, der durchbrochen war von kleinen Blasen. Methan, nahm ich an. Wir kamen zu einer Stelle, an der sich ein ungewöhnlicher Film ausgebreitet hatte, nicht ganz so bunt wie ein Erdölregenbogen und nicht so dick wie die Milchhaut auf einem Topf mit kochendem Chai. Die Oberfläche war mit schwarzen Klümpchen gesprenkelt. Unsere Nasen sagten uns, dass nicht nur Shivas Kummer die Yamuna schwarz gefärbt hatte. Wir fuhren nicht über einen Fluss, sondern über den gro ßen Abfluss der Stadt, eine Flut menschlichen Abwassers anstelle des Stroms, der sich einst diesen Weg gebahnt hatte.
    Die Yamuna war voller Scheiße.
    Nach und nach wird sie damit gefüllt. Sie entspringt im Himalaya und erhält auf ihrem Weg durch die Ebene regelmäßige Dosen Jauche und Industrieabwässer. Dann, etwa 225 Kilometer flussaufwärts von Delhi, trifft die Yamuna auf die Hathnikund-Staustufe, einen mehrstufigen Damm, der ihren Lauf regulieren soll. Dort wird ein Großteil des Wassers in den östlichen und westlichen Yamuna-Kanal umgelenkt. Diese Kanäle sind beide mehrere Hundert Jahre alt und waren

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