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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
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und selbst das stand nur einen Spaltbreit offen. Einige Jungen lachten und plantschten in dem kleinen Wasserfall, der daraus hervorquoll. Da wir uns oberhalb der Abwasserabläufe in den Fluss befanden, war das Wasser hier heller, klarer und frei von jenen unaussprechlichen Klumpen. Am gegenüberliegenden Ufer konnten wir bescheidene Gemüsefelder erkennen. Kleine Felder dieser Art befanden sich überall im Überschwemmungsgebiet, sogar in Delhi.
    Oben auf den Stufen kaufte ein Mann in Bürokleidung ein Schälchen mit Vogelfutter von einem Verkäufer, stellte es vor ein paar Raben am Geländer ab und betete. Auf den unter Wasser liegenden Stufen stand ein Junge knietief im Fluss und klaubte Plastiktüten und Holzstücke heraus. Einige Meter fluss abwärts hievte eine Frau eine etwa fünfzig Zentimeter große Ganesha-Statue ins Wasser. Als der Elefantenkopf im Wasser verschwand, war die Frau bereits auf dem Rückweg die Stufen hinauf. Im Gehen klopfte sie sich den Staub von den Händen.
    Ich ging die großen Stufen zum Wasser hinunter. Ganz unten stand ein Mann in einem weißen Unterhemd und zog einen Magneten durchs Wasser. Die Münzsammler entwickelten neue Technologien. »Um zu leben, muss man etwas tun«, sagte er in der universellen Weisheit, die Journalisten begegnet, wenn sie Menschen zu ihren niederen, gefährlichen oder einfach ganz allgemein miesen Jobs befragen. Es gab Schlimmeres, als sein Leben damit zu verbringen, in kurzen Hosen den Ram Ghat auf und ab zu spazieren.
    Auf der untersten Stufe hockte ich mich ans Wasser. Ich hatte nicht vor, ein heiliges Bad zu nehmen, aber das schien mir der sauberste Flecken an Delhis Flussufer zu sein. Hier wollte ich der Göttin der Liebe näherkommen. Wenn sie Shiva helfen konnte, dann erst recht meinem kleinen, gequälten Herzen.
    Ich hielt eine Hand ins Wasser. Winzige Gestalten flitzten da von. Wasserläufer. Etwas Leben war doch noch in der Yamuna. In der Tageshitze fühlte sich das Wasser kühl an. Reich an coliformen Bakterien, aber erfrischend. Ich nahm eine Handvoll Wasser heraus. Wie viel davon stammte wohl aus dem Ganges? Und wie viel vom Munak-Ablaufkanal? Wie viel kam vermischt flussaufwärts vom nächsten Abwasserabfluss? Ich goss es mir über den Kopf. Die allumfassende Liebe der Yamuna tröpfelte mir durchs Haar, den Nacken herunter und in meinen Kragen hinein.
    Eine Frau mit einem großen, weißen Sack landete schwerfällig auf der unteren Stufe. Ihre Tochter war auch dabei. Gemeinsam kippten sie den Sack um. Blumen und kleine Gefäße purzelten heraus und etwas, das aussah wie Wegwerfgeschirr: die Überreste irgendeiner Andacht, die woanders gefeiert worden war, aber erst zu Ende sein würde, wenn die rituellen Abfälle im Fluss versunken wären. Ein anderes Paar schüttete einen Sack Kohle aus. Regenbögen aus Kohlenwasserstoff verbreiteten sich auf dem Wasser. Zwei Jungen, die im Fluss standen, begannen sofort damit, die Brocken einzusammeln.
    Doch Münzen und Kohle waren nicht die einzigen Dinge, die in Ram Ghat aus dem Wasser gefischt wurden. Oben an der Treppe trafen wir auf Abdul Sattar, der im Schneidersitz auf einem kleinen Teppich im Schatten der Brüstung saß. Er war Mitte vierzig, trug einen schwarzen Pullover und einen dünnen Schnurrbart.
    Sattar war der selbst ernannte Lebensretter von Ram Ghat. Von Beruf war er Bootsführer, wie Ravinder, aber seine wahre Leidenschaft galt dem Herausziehen von Selbstmördern aus dem Fluss. Das tat er seit über 25 Jahren.
    Mit Mansis Hilfe als Dolmetscherin fragte ich ihn, ob hier viele Menschen versuchten, sich umzubringen. Er nickte energisch. »Bahot«, sagte er. Viele. Der März hatte erst vor anderthalb Wochen begonnen, aber in diesem Monat hatte es schon zwei Versuche gegeben.
    »Ich habe es nicht zugelassen«, sagte Sattar. »Ich erkenne sie gleich. Sie sehen meistens ziemlich verzweifelt aus.« Er hatte ein paar junge Leute, die immer am Fluss herumhingen. Wenn er jemanden entdeckte, der aufgewühlt wirkte, wies er seine Helfer an, der Person zu folgen, damit im Falle eines Selbstmordversuchs schnell ein Retter zur Stelle wäre.
    Sattar nahm kein Geld für seine Dienste. Und warum auch? Er brauchte ja nur im Schatten zu sitzen, Passanten zu grüßen, die Aussicht zu genießen und das eine oder andere Leben zu retten. Aber seiner Familie gefiel das nicht. Es gefiel ihnen nicht, dass er immer zum Fluss lief, wenn er gerufen wurde, sogar mitten in der Nacht.
    »Regen sich die Menschen auf, wenn

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