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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
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»äquivalenten Bodenverwendbarkeit«, was nach dem Wortlaut der Regierung von Alberta bedeutet, dass rekultiviertes Land »eine Bandbreite von Nutzungen zulassen muss, die seiner früheren Funktion gleichkommen«.
    Und das ist der Punkt – seine frühere Funktion . Was war denn die frühere Funktion eines ungestörten Nadelwaldes? Was, wenn die wichtigste Funktion gerade in seiner Ungestörtheit bestand?
    Ich fuhr mit meinem kleinen Mietauto auf dem dicht befahrenen Highway. Er glänzte noch vom Regen, aber der starke Sonnenschein schob die Sturmwolken des Nachmittags fort. Der abendliche Schichtwechsel hatte begonnen. Die Arbeit in den Abbaugebieten verläuft in zwei Schichten pro Tag, sodass alle zwölf Stunden ganze Bataillone von Lastwagen- und Bagger fahrern, Ingenieuren und sonstigen Arbeitern den Highway 63 hinunterbrausen. Die Straße ist lang und gerade, und die Kolonnen von Pick-ups und rot-weißen Bussen hatten inzwischen eine beträchtliche Geschwindigkeit erreicht. Als ich mich ge rade der Abzweigung zum Crane Lake näherte, gefolgt von einer dröhnende Phalanx von Autos und Bussen, sah ich sie: die Enten.
    Sie watschelten vom rechten Seitenstreifen aus in Richtung des Crane Lake auf den Highway. Eine Mutter mit sechs Küken.
    Ein schwarzer Sportwagen war gerade an mir vorbeigezischt und hatte sich wieder in die rechte Spur eingeordnet. Ich war mir sicher, dass er eine Schneise durch die Tiere ziehen und sie in verdrehten Einzelteilen zurücklassen und ich, der ich auch nicht anhalten konnte, durch die Überlebenden pflügen würde, und wenn dann durch irgendein Wunder immer noch welche lebten, würden sie unausweichlich von der herannahenden Wand an Bussen ausgelöscht. Nachdem so viel von Enten, Enten abschrecksystemen, Ententod und Entenprozessen die Rede war, stand ich nun kurz davor, ein weiteres Kapitel von Syncrudes Umweltbilanz zu eröffnen und dieses Kapitel würde mit Blut geschrieben sein, dem Blut der Enten auf dem Highway 63 während des Schichtwechsels.
    Innerhalb weniger Sekunden war es vorüber. Der Fahrer des Sportwagens bremste, scherte nach links aus und verpasste die Enten um Haaresbreite. Erschreckt kehrten sie um und watschelten zurück, genau vor mein Auto. Für einen Augenblick konnte ich die Probleme der Syncrude-PR aus tiefstem Herzen nachvollziehen. Ich wich auf den Seitenstreifen aus und verpasste die Enten ebenfalls, erschreckte sie jedoch erneut, als ich vorbeizog, und sie eilten hektisch zurück in die Mitte des Highways.
    Im Rückspiegel sah ich, wie die Küken sich in alle Richtungen verteilten, als sich ihr Untergang in Form eines Busses mit einer Geschwindigkeit von 120 Stundenkilometern näherte – wahrscheinlich hieß der Fahrer Mohammed. Der Bus näherte sich zusammen mit einem großen weißen Pick-up, dahinter folgten weitere Fahrzeuge. Sie hatten keine Möglichkeit auszuweichen. Entsetzt stellte ich mir vor, wie der Bus in den Graben schlitterte und auf die Seite rollte.
    Und dann geschah es – nicht.
    Der Busfahrer trat in die Eisen, der Bus ging rumpelnd in die Knie. Der Pick-up verließ mit einem lässigen Schwenker halb seine Spur, die nahende Kolonne verkeilte sich und kam zum Stehen. Bevor die Szene im Rückspiegel aus meinem Blick verschwand, sah ich, wie die mechanisierte Armee der Syncrude- Abendschicht innehielt, und es sah aus, wie wenn Godzilla Bambi einen Strauß Gänseblümchen überreicht. Da standen sie und warteten geduldig, bis die Enten sich wieder in Reih und Glied zurückgefunden hatten und vom Highway zurück in die Wälder gewatschelt waren.
    *
    Der Crane Lake ist ein nettes Fleckchen, umgeben von einem Streifen jungen Waldes, mit Schilfbüscheln an den sumpfigen Ufern und einem Naturlehrpfad, der ungefähr anderthalb Kilometer durch hohes Gras und Wildblumen um den See herumführt. Der einzige Haken an der Idylle ist, dass es dort überall nach Ölsand stinkt: Es ist das berauschende Aroma einer Schüssel blubbernden Teers, die ein Kellner im Restaurant vor Sie auf den Tisch stellt. Der Trick, das Crane-Lake-Erlebnis zu genießen, besteht darin, diesen Geruch als Teil der Natur wertzuschätzen und daran zu denken, dass er dem von Gott geschaffenen Ölsand entströmt – auch wenn es die Menschen waren, die beschlossen haben, die Erde aufzureißen und den Sand freizulegen. Was die unentwegt knallenden Schüsse der nahen Vogelabschrecksysteme angeht: Wenn sie nicht einmal die Vögel davon abhielten, am Crane Lake zu kuren, wieso

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