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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
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nur Tod. Nichts, das lebt. Jeder Baum, jedes Gestrüpp, alles auf der Erdoberfläche wurde einfach weggeschoben. Die Flüsse wurden umgeleitet und die Feuchtgebiete ausgetrocknet. Dort gibt es nur diese Maschinen, größer als irgendetwas anderes auf der Erde, die ihre Zähne in die Erde hauen, 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag. Gefühlsmäßig ist es der Horror.«
    »Würden Sie sagen, dass Sie es auf eine paradoxe Art schön fanden?«, fragte ich.
    »Äh, nein, mit diesem Wort würde ich es nicht beschreiben. Das ist einfach ein Ort ohne Leben. Eine durch und durch karge Mondlandschaft. Und man wird ständig daran erinnert, was dort war. Oder was dort eigentlich sein sollte.«
    Was dort eigentlich sein sollte. Das war der Knackpunkt, dachte ich. Die Schönheit oder Hässlichkeit eines Ortes hatte nicht viel damit zu tun, wie es dort aussah. Selbst eine Mondlandschaft konnte schön aussehen – solange sie auf dem Mond lag. Und wer würde die Schönheit einer Wüste leugnen, egal wie karg und abweisend sie ist? Unsere Wahrnehmung von Schönheit ist davon abhängig, was wir für richtig halten. Wie sonst konnten wir auf die Idee kommen, dass unnatürliche Objekte wie Städte, Bauernhöfe oder leere Straßen schön seien? Das ist es, was ich sehen wollte. Den Rest Schönheit, der in jeder noch so vernachlässigten Ecke der Welt zu finden war.
    *
    Höhe. Ich brauchte einen Überblick. Mike Hudema kletterte auf einen Bagger. Ich mietete ein Flugzeug.
    Wir starteten mit unserer viersitzigen Cessna direkt in die Sonne und flogen dann einen Bogen in nördlicher Richtung, so dass sich zuerst die Innenstadt von Fort McMurray unter dem rechten Flügel befand, dann die erst kürzlich aus dem Wald geschlagenen Vororte – das Viertel von Don und Amy. Die Bebauung hatte eine klare Grenze, hinter der sich Nadelbäume und Sümpfe bis zum Horizont erstreckten.
    Der Pilot hieß Terris. Er war jungenhaft und freundlich, hatte ein breites, kantiges Gesicht und einen starken kanadischen Akzent. Er war erst seit ein paar Monaten in Fort McMurray. Seinen Lebensunterhalt verdiente er mit Flugstunden und gelegentlichen Touren. Während des Booms des letzten Jahrzehnts hatte er Chartermaschinen aus Edmonton herausgeflogen. Vor allem Manager und Ingenieure aus dem Ölgeschäft hatte er zu den firmeneigenen Landebahnen der Ölunternehmen gebracht. »Die Pisten in Firebag und Albian sind besser als die des Flughafens von Fort McMurray«, sagte er. Die Ingenieure kamen sogar aus dem fernen Toronto, blieben zwei Wochen und flogen dann wieder für ein, zwei dienstfreie Wochen nach Hause. Das ist auch in Fort McMurray der übliche Takt, nur dass die meisten Arbeiter das Auto nehmen und über den Highway 63 nach Edmonton fahren.
    Während der Rezession war der Ölpreis gefallen und das Ölsandgeschäft in einen weiteren konjunkturbedingten Abschwung geraten, daher konnte Terris nicht mehr für die Ölunternehmen arbeiten.
    »Deshalb bin ich jetzt wieder auf mich allein gestellt«, sagte er.
    Fort McMurray wurde immer kleiner hinter uns. Die Sonne stand tief und war unter einem Nebelschleier verborgen, die Erde lag im Dämmerlicht. Wir flogen auf die Schwefelpyramiden von Syncrude zu. Ihre Ausmaße waren aus der Luft noch beeindruckender, ein Fußabdruck so groß wie fünf Häuserblöcke.
    »Ich habe einen Flugschüler, der Ingenieur bei Suncor ist«, erzählte Terris über das Headset. »Er klagte darüber, dass den Ölsandunternehmen die Hölle heiß gemacht werde, weil sie angeblich den Clearwater verschmutzten. Er sagte: ›Der Clearwater ist einer der am stärksten natürlich verschmutzten Flüsse hier.‹« Terris lächelte. »Damit meinte er: ›Der Fluss saugt seit drei Millionen Jahren Bitumen ins Wasser. Wir tun nichts anderes!‹«
    Wir haben wohl alle unsere eigene Art, uns als Teil der natürlichen Ordnung zu betrachten.
    Jetzt sah ich einen flachen Berg trockener Rückstände. Don hatte gesagt, danach solle ich Ausschau halten. Es war ein gewaltiger Haufen sandigen Abfalls aus dem Tagebau – wie alles andere hier eines der weltweit größten menschengemachten Objekte. Der Berg war so groß, dass man kaum erkennen konnte, wo die Rückstände aufhörten und die Natur begann. Daneben befand sich ein mehr als zwei Kilometer langes grafitfarbenes Absetzbecken, auf dem ein einsames Boot lag.
    »Die Leute reagieren sehr unterschiedlich auf den Anblick der Ölsandgebiete«, sagte Terris. »Einmal hatte ich eine Gruppe von Leuten, die

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