Willkommen in Wellville
es gesagt: Freunde. Der Ausdruck lag vor ihnen wie der Stamm eines umgestürzten Baumes, und die größeren, komplizierteren Begriffe – Dankbarkeit, Zuneigung – verfingen sich in seinen Ästen. Schwester Graves zog es vor, sie zu ignorieren. »Wenn wir hier eingestellt werden«, sagte sie und langte hoch, um eine bereits perfekt sitzende Haube zurechtzurücken, »unterschreiben wir einen Revers, wir verpflichten uns, die hier herrschenden Prinzipien hochzuhalten und davon abzusehen, außerhalb der Grenzen, die uns die Pflicht auferlegt, mit den Patienten zu fraternisieren.«
Fraternisieren. Ihr Ton ärgerte ihn maßlos. Trocken, kalt, unpersönlich – sie hätte genausogut aus einem medizinischen Text zitieren können. Und er hatte gerade die letzten hundertzwanzig Milliliter Milch dieses Tages hinuntergeschluckt, widerspruchslos, nur um ihr eine Freude zu machen; hier saß er, von Dankbarkeit und dem reinen, ehrenhaften Wunsch erfüllt zu schenken, und sie nannte es fraternisieren. Er sah zu, wie sie sein abendliches Klistier vorbereitete, umständlich das Paraffin über einem Brenner erhitzte und mit peinlicher Genauigkeit eingoß, so daß sie das samtgefütterte Etui auf dem Nachttisch nicht ansehen mußte, um das eine rote Schleife mit einer persönlich beschriebenen Karte gebunden war. »Aber das ist ja lächerlich«, protestierte er. »Ich bin der Patient, Sie sind die Schwester, gewiß – aber wir sind doch auch Menschen, oder?«
Keine Antwort.
»Oder?«
Sie murmelte ein widerwilliges Ja, als sie ins Badezimmer hastete und Wasser ins Waschbecken laufen ließ. Er musterte sie durch die offene Tür, die Formen ihrer festen, kompakten Schultern, die sich abzeichnenden Sehnen, als sie mit den Wasserhähnen hantierte, ihre Beine, die ordentlichen, eckigen Fersen. Dann war sie wieder da, etwas gerötet, aber entschlossen.
»Wollen Sie es denn nicht einmal aufmachen? Wollen Sie es sich nicht mal anschauen – auch wenn Sie es nicht annehmen dürfen? Ich hab’ es selbst ausgesucht. Für Sie. Ich habe dabei an Sie gedacht.«
Sie lächelte kurz und spöttisch. »Ein selbstloses Geschenk, hm?« sagte sie. »Und haben Sie solche selbstlosen Gaben der Dankbarkeit auch für Schwester Bloethal und Mrs. Stover besorgt? Für Ralph …? Mr. Lightbody, ich glaube, Sie machen sich etwas vor –«
»Können Sie nicht ›Will‹ zu mir sagen?«
Sie hielt das Klistier in Händen, schlüpfrig, heiß, die Katharsis in einem Gummiball, den sie nervös von einer Hand in die andere nahm. Eine Nadel glänzte in ihrem Haar. »Nein«, sagte sie, »kann ich nicht.«
»Weil Dr. Kellogg es mißbilligen würde?« Will schwang abrupt die Beine auf den Boden, tastete mit den Füßen auf den kalten, keimfreien Bodenkacheln nach seinen Slippern. »Der Mann, der alles sieht, hört und weiß?«
»Weil es nicht recht wäre. Weil es gegen die Vorschriften wäre.«
» Die Vorschriften. « Will stand jetzt, hager und groß, der Bademantel hing an ihm wie ein schlaff am Mast flatterndes Segel. »Wessen Vorschriften? Was für Vorschriften? Sie glauben doch nicht etwa an all diesen Humbug, oder? An diesen selbstgerechten Unsinn mit der Diät, die Klistiere, die Schlammpackungen, den Reizentzug? Was haben wir davon – ein halbes Jahr länger, in dem wir Brei essen oder Trauben oder Psylliumsamen? Ein Jahr? Sterben müssen wir sowieso, alle, sogar der erhabene Dr. Kellogg – entspricht das nicht der Wahrheit?«
Irene sah aus, als hätte man sie geschlagen. Ihre Miene war hart, empört, so bleich, daß es ihn beunruhigte. Aber als sie sprach, war ihre Stimme ruhig und beherrscht. »Ja«, sagte sie, »selbstverständlich glaube ich daran. An jedes Wort, an jede Behandlung, an jedes Prinzip. Von ganzem Herzen – und auch mit meinem Verstand. Sie sind ein kranker Mann«, fügte sie hinzu. »Sie wissen nicht, was Sie sagen.«
»Das weiß ich sehr genau«, beharrte Will, aber er erlahmte. »Ich glaube nur nicht, daß Ihr Dr. Kellogg der liebe Gott ist, das ist alles, und ich glaube nicht, daß er das Recht hat, über Ihr Leben zu bestimmen – oder das Leben von sonst irgend jemandem.«
Aber der Streit war bereits vorüber. Sie war jetzt gelassen, blickte ekstatisch zu ihm auf, wie ein Kreuzritter, wie ein Moslem am Vorabend des Dschihad. »Es gibt einen Gott im Himmel, Mr. Lightbody, und ich glaube an Ihn auf eine Weise, wie Sie es vermutlich nie tun werden, ein Gott, der sich um unsere unsterbliche Seele sorgt, aber auch in uns allen
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