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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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merkantilen Bimmeln der Glocke über der Tür den Laden.
    Augenblicklich befand er sich in einer anderen Welt. Wärme umfing ihn. Stimmen flüsterten in priesterlichen Tönen über Steine und Fassungen, über Vever, Gaillard und Lalique. Ein hübsches Mädchen, das neben einem langen, funkelnden Schaukasten einen Opalring anprobierte, blickte auf und lächelte ihn an. Wie im Traum merkte Will, wie ihm der Mantel von den Schultern glitt, entdeckte er den Luxus eines Plüschsessels, der zwischen sein mageres Hinterteil und die Leere des Raums geschoben wurde, streckte er die Hand aus, um eine dampfende, duftende Tasse feinster Pariser Chocolat chaud in Empfang zu nehmen, gestattete er dem Ladenbesitzer höchstpersönlich, ihm die ganze Pracht modischer Juwelen und ihres Drumherums aus Gold, Silber und Grubenschmelz-Email vorzuführen. Er kaufte zuviel und zahlte zuviel dafür. Aber das machte nichts. Überhaupt nichts. Patrick Henry Casaubon war der Inbegriff der Gastfreundlichkeit, und sein Geschäft der Palast eines Paschas, und beide boten ihm eine willkommene Abwechslung vom Antiseptischen und physiologisch Korrekten.
    Will nippte an der Schokolade wie ein Verräter, ein Gesetzloser, und angesichts dieses oder jenes glitzernden Schmuckstücks nickte er gebieterisch oder schüttelte ebenso den Kopf. Und als er ging, als er sich gegen die Kälte wappnete und auf den fröhlich beleuchteten Straßen den Rückweg zum San antrat, nahm er eine fürstliche Halskette mit Saphiren aus Ceylon und rosa Diamanten für Eleanor sowie eine Brosche mit schimmernden Zuchtperlen und einem kleinen, unauffälligen und absolut verzeihlichen Diamanten für Irene mit. Zwei kleine, elegante, samtgefütterte Etuis. Während er den Hügel zum San hinaufschritt, steckten sie in seiner Brusttasche, handfest und überzeugend, eine kaum merkliche Ausbuchtung im teuren Stoff seines Mantels. Plötzlich fühlte er sich leichter als Luft, als hätte er eine schwere Last abgeschüttelt, und er konnte nicht anders, er konnte einfach nicht anders – obwohl ihn die Leute ansahen, als wäre er betrunken oder verrückt oder als schwebte er hinter einem voll geblähten Segel Sears’-White-Star-Alkoholentziehungskur, begann er lauthals zu singen:
     
    Das Fest der Liebe ist gekommen,
    Zu unser aller Nutz und Frommen.
    Lasset nun die Glocke läuten
    Und mit Nachbarn und mit Freunden
    Vergessen Sturm und Hagelschlag,
    Froh begehen diesen Tag.
     
    Seine hallende Stimme heulte auf wie der Wind in einem Abflußrohr, hoffnungslos unmelodisch, tonlos, flach, aber nichtsdestotrotz ansteckend. Als erstes fiel ein Hund mit einem irren, stotternden, hohen Jaulen ein, das unwiderruflich das Gefüge der Nacht erschütterte, und dann noch einer und noch einer, bis schließlich die ganze Nachbarschaft zu beiden Seiten der Washington Avenue mit ihm sang.
     
    Aber die gute Laune war nicht von Dauer. Wie sollte sie auch? Wie konnte in dieser verdammenswerten Vorhölle aus Backstein, Stein und Marmor auch nur das kleinste Vergnügen Bestand haben, das nicht in direkter Verbindung mit dem Verdauungstrakt stand?
    Sie wollte die Brosche nicht annehmen. Schwester Graves. Irene. »Es tut mir sehr leid, Mr. Lightbody«, hauchte sie, und in Wills Zimmer war es still wie im Leichenschauhaus, keinerlei Geräusch vom Heizkörper, von den Wasserrohren, vom Gang oder dem Zimmer nebenan, »aber wir dürfen von Patienten keine Geschenke annehmen. Das ist streng verboten.«
    Will war fassungslos. »Verboten? Ein Geschenk anzunehmen, eine weihnachtliche Geste, die selbstlos und im Gedanken an das Fest ausgeführt wird?« Er war außer sich. »Wer? Wer hat das verboten?«
    Das Licht der Novizin leuchtete in ihren Augen, als sie den Namen aussprach: »Dr. Kellogg.«
    »Dr. Kellogg«, wiederholte Will, und sein Tonfall war ein völlig anderer. »Dr. Kellogg. Ist er Gouverneur? Präsident? Gott? Muß er bis ins allerletzte Detail vorschreiben, was hier vor sich gehen darf und was nicht, angefangen von der Darmentleerung bis zu unseren Gefühlen?« Will lag in Nachthemd und Bademantel auf dem Bett, die dünnen Knöchel über Kreuz. Jetzt setzte er sich auf, und seine Stimme klang gepreßt vor Ärger. »Und was ist mit mir? Was ist mit meinem Recht, meine … meine Zuneigung und Dankbarkeit zum Ausdruck bringen zu dürfen gegenüber meinen Mitmenschen, Männern – wie Frauen. Menschen gegenüber, ich meine, Menschen gegenüber, die ich als meine Freunde betrachte?«
    Da war es, er hatte

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