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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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und es wurde behauptet, daß er einmal einen Arzt entlassen hatte, den man im Hinterzimmer auf frischer Tat mit einer doppelten Portion Spareribs in Tomatensoße erwischt hatte. Will konnte sich nicht erinnern, je einen Geruch so gierig eingesogen zu haben, nicht einmal als Junge, und er stand wie angenagelt mitten auf der Straße und wunderte sich über die Übermacht des olfaktorischen Sinnes. Handelte es sich um eine Art organischer Reaktion auf die Abtötung seiner Sinne durch diese ewigen Rationen schleimiger Milch?
    So war es. So mußte es sein. Aber ach, was für ein Duft!
    Und jetzt meldete sich zum erstenmal seit ziemlich langer Zeit sein Magen wieder, und er hatte eine epiphanische Vision seiner selbst, wie er bequem an einem Tisch mit einem karierten Tischtuch saß, eine Flasche Bier vor sich, und ein Kellner einen Teller mit Pommes frites und einem Hamburger-Sandwich abstellte, das mit Zwiebeln und Dillgurken frisch aus dem Faß garniert war. Die Vision war so greifbar, daß er gerade nach dem Teller langte, als ihn ein Droschkenkutscher in die Realität zurückholte. Will sah auf zu Bart und Zähnen, hörte das Quietschen von Rädern und das Donnern von Hufen. »Verschwinden Sie von der Straße, Sie gottverdammter Trottel!« brüllte der Mann, dann war er auch schon nicht mehr zu sehen, und die Droschke rollte empört schwankend die Straße entlang.
    Will ging weiter bis zum Gehweg, den Blick auf die Fenster des Restaurants geheftet – er sah einen Mann mit Backenbart, der eine Gabel zum Mund hob, betriebsames Gewusel, einen Kellner mit Schnurrbart, Schürze und Hosenträgern –, aber er ging weiter. Nein, sagte er sich, und er war ein Mann aus Stahl, nein. Er machte echte Fortschritte – die Doktoren Linniman und Kellogg hatten für Weihnachten den Wechsel zur Traubendiät versprochen, wenn alles gutging –, und er durfte jetzt nicht alles aufs Spiel setzen aufgrund eines einzigen Impulses, gleichgültig, wie unwiderstehlich er war. War er verrückt? Wahnsinnig? Irre? Wollte er sein Leben riskieren für ein Hamburger-Sandwich? Die Antwort schepperte in seinem Kopf wie ein lockeres Radlager: Beinahe, beinahe.
    Auf der West Michigan kam er an einem Buttermilchladen vorbei und verschwendete keinen zweiten Blick daran – er hatte genug Milch für sechs Leben getrunken –, aber angesichts der weihnachtlichen Auslage im Fenster von Whalens Lebensmittelladen – Obst, Nüsse und Süßigkeiten – verlangsamte er den Schritt, und vor den Gänsen mit den langen Hälsen und den dicken Schinken in Tuckermans Fleischmarkt blieb er stehen. Ein Schinken, dachte er, was für ein großartiges Geschenk … aber für wen? Er kannte keine Menschenseele mehr, die sich über einen Schinken gefreut hätte. Abgesehen von seinem Vater oder Ben Settember in Ben’s Elbow – und die waren so weit weg in Raum und Zeit und so völlig anders veranlagt, als lebten sie auf einem anderen Planeten in einer anderen Galaxie. Wie weit es doch mit ihm gekommen war. Und wie weit – wie unermeßlich, strapaziös, unerreichbar weit – er noch gehen mußte.
    Aber genug davon. Es war Weihnachten, und nichts konnte ihm die Freude daran verderben. Sein Schritt war schwungvoll, die Melone saß schief über einem Auge, die Schalenden flatterten hinter ihm im Wind. Für die Bürger von Battle Creek war er ein bemerkenswerter Anblick: seine tänzelnden Unterschenkel und wirbelnden Ellbogen, eine große, schlaksige Gottesanbeterin in menschlicher Form, die in einer Einmannparade über die vereisten Straßen marschierte. Kam ihm eine Dame entgegen, lüpfte er den Hut, Männern und Jungen wünschte er fröhliche Weihnachten, und trotz seiner Widerstände ließ er es zu, daß das Geschenk für Irene ganz nach oben auf der Liste seiner wohltätigen Vorhaben rutschte.
    Der Juwelier – Casaubon, nach allem, was man hörte, der beste am Ort – war genau da, wo Homer Praetz gesagt hatte, daß er sei, in der McCamly, genau gegenüber dem Post Tavern Hotel, einer weiteren Lasterhöhle. Will blieb einen Augenblick vor der Tür stehen, reckte den Hals, um das hoch aufragende Gebäude aus Backstein und Granit zu mustern, in dem sich zweifellos in diesem Augenblick Rückfällige und beneidenswert Ahnungslose an Lammhachsen, Rindersteaks und Schweinelenden gütlich taten und das viele köstliche, unverdauliche Fleisch mit Litern von Bier und kleinen Schlucken guten Malzwhiskeys hinunterspülten. Seufzend wandte er sich ab und betrat zum beruhigenden,

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