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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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und sah, daß Schwester Graves ihr schmales Näschen vom Vater hatte, die Arme, Schultern, Lippen, Zähne und das Lächeln von ihrer Mutter (ganz zu schweigen von einigem mehr, das in den Ruinen von Mrs. Graves’ großzügiger Figur noch zu erkennen war).
    Der Nachmittag schritt voran. Das Feuer züngelte am Kamingitter empor; es wurde gesungen; die Gräfin Tetranova nahm ein Glas Apfelwein an, als handelte es sich um durchgeseihtes Spülwasser; Leila Teitelbaum verkroch sich in eine Ecke, bis sie Irenes Mutter mit dem Thema geschmolzenes Schweineschmalz wieder hervorlockte; der Geruch nach gerösteten Kastanien haftete in der Luft; Will sang, schlitterte und hoppelte mit den Kindern um die Wette nach Äpfeln; und die Hunde, Katzen, ein zahmer Waschbär und der pulsierende Strom von Brüdern und Schwestern sorgten den Nachmittag über für ein ununterbrochenes, fröhliches Getöse. Will amüsierte sich königlich. So königlich, daß er seinen Zustand minutenlang vergaß (wiewohl ihn Schwester Graves jede Viertelstunde daran erinnerte, indem sie eine Hundertzwanzig-Milliliter-Flasche Milch öffnete, und seine Blase ihn in periodischen Abständen zur Küchentür hinaus auf das Aborthäuschen hasten ließ). Trotzdem war es erstaunlich. Sein Magen rumorte nicht mehr, Pusteln, Ekzeme und Furunkel waren verheilt, sein Herz schlug regelmäßig, seine Zunge war nicht mehr belegt. Er fühlte sich wohler als seit Monaten, ja seit Jahren. Er fühlte sich wie ein Mensch, fühlte sich jung, fühlte sich wie ein Mann, der die Verzweiflung über einen ruinierten Darm, ein schlaffes Glied oder einen vom Schicksal dahingerafften Truthahn nie gekannt hatte.
    Als es dunkelte, eilten Tetranova und Teitelbaum überstürzt zum Schlitten, aber Will konnte sich kaum losreißen. Die Hunde leckten ihm die Hände, die Kinder küßten ihn, Mrs. Graves packte ein Dutzend Plätzchen ein für den Tag seiner vollständigen Genesung. Und auf dem Nachhauseweg, als sie durch eine Nacht glitten, die Himmel und Erde so vollständig miteinander verband, daß er nicht mehr sagen konnte, ob die Kufen noch die Erde berührten, machte Will es sich unter den Pelzen und Wolldecken gemütlich, und obwohl er wußte, daß es unangebracht war, obwohl sie seine Krankenschwester war und er ein verheirateter Mann, legte er den Arm um Irenes Schulter und ließ ihn dort, bis auf der kalten Straße die Lichter des Sanatoriums auftauchten und sie einhüllten.
    Und jetzt war er wieder draußen. An der frischen Luft. Allein. Er ging die Washington Avenue entlang, die Brieftasche sicher verstaut, der Schnee streichelte mit sanften Flügeln seine Backen und Augenbrauen, die Gerüche der Erde erschienen ihm so neu, als hätte er gerade die Flasche entkorkt, die sie enthielt. Es war zwei Tage vor Weihnachten, und er war unterwegs zu einem Juwelier, um zu sehen, ob sich nicht etwas fände, was Eleanor gefallen würde. Das war sein bewußtes Vorhaben. Aber tief in den abblätternden Schichten seines Geistes existierte ein zweiter Gedanke, ein Gedanke, dem er sich nicht direkt nähern konnte aus Angst, ihn ins Freie zu jagen: Er wollte auch etwas für Irene kaufen. Nichts Auffälliges natürlich, nichts, was sie falsch verstehen könnte – keinen Ring, kein Medaillon oder dergleichen. Eine Brosche vielleicht oder einen Anhänger. Etwas fürs Haar, ein Hals- oder Armband. Nur eine Geste, weiter nichts. Eine Kleinigkeit, die besagen würde: Danke für Ihre Fürsorge. Das heißt, die geleisteten Dienste. Die persönliche Zuwendung. Er konnte darin nichts Unrechtes entdecken. Er gab auch dem Briefträger, den Hausmädchen, dem Botenjungen von Offenbacher immer etwas – Weihnachten war das Fest des Schenkens, oder etwa nicht?
    Als er die Champion überquerte, schien die Luft plötzlich zu gerinnen, und ein einzelner elektrisierender Geruch wehte aus dem Nirgendwo heran, vertrieb alle anderen Gerüche und ließ ihn wie angewurzelt stehenbleiben. Die Erkenntnis kam augenblicklich über ihn: Es handelte sich um das unverfälschte, natürliche, unverfrorene Aroma von Fleisch, das in der Pfanne brutzelte – von einer Frikadelle, um genau zu sein –, und es entströmte dem Restaurant an der Ecke. The Red Onion stand auf dem Schild, und Will erkannte es als die Lasterhöhle wieder, in der die Wiederkäuer und Joghurtschlecker aus dem San Zuflucht suchten, wenn sie die Kelloegschen Diätvorschriften nicht länger ertrugen. Will hatte gehört, daß der Doktor Spione dort einschleuste,

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