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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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so drückte er sich jetzt noch viel geräuschloser die lautlosen Flure entlang, schuldig einer Unmenge von Vergehen, deren geringstes nicht seine augenblickliche Absicht war, sich seiner leidenden Frau aufzudrängen. Schenk mir eine Tochter, Will, hatte sie geflüstert. Nun, jetzt war er bereit, und seine Gebrechlichkeit, sein Leiden, alle Gedanken an Zurückhaltung und alle Appelle an die Vernunft waren null und nichtig angesichts dieser bedeutsamen Tatsache.
    Drei Stockwerke hinunter und in einen Korridor, der identisch war mit dem, den er gerade verlassen hatte. Helle Lichter. Kalte Böden. Zimmer 212. Klopfen – ganz leise –, ein Blick nach rechts, ein Blick nach links, niemand zu sehen, nicht einmal eine Schwester. »Eleanor? Bist du da?« Die Hand auf dem Türknauf, einen Rülpser unterdrückt, das Handgelenk gedreht, im Zimmer ein sanftes Glühen. »Eleanor? Ich bin’s, Will.«
    Nichts. Nicht einmal ein Flüstern. Er schlüpfte ins Zimmer wie ein Dieb, zog die Tür leise hinter sich zu. Eleanor lag nicht in ihrem Bett. Zehn nach fünf morgens, und seine Frau lag nicht in ihrem Bett. Der erste wilde Gedanke kam wie ein Pfeil auf ihn zugeschossen, wuchs, und bohrte sich in sein Gehirn: Linniman. Aber nein. In dem Bett war geschlafen worden, das Kissen war zerdrückt, die Laken lagen auf einem Haufen. Zehn nach fünf morgens: Wo zum Teufel war sie? Das Badezimmer lieferte keinerlei Hinweis: Zahnbürste, Puder, Rouge, ein feuchtes Handtuch und ein seidener Morgenrock, den er noch aus glücklicheren Tagen kannte. Zurück im Zimmer, durchsuchte er die Kommodenschubladen: Unterwäsche – sie elektrisierte ihn –, Schals, Handschuhe, Hutnadeln. Auf dem Nachttisch lagen zwei Bücher, in Leder gebunden, die Titel in vergoldeten Lettern: Das Buch der Natur, von Mrs. Asenath Nicholson, das überwiegend von Karotten und Pastinaken zu handeln schien, und Freikörperkultur von einem gewissen Gerhardt Kuntz, ein Opus, das für Sonnenbäder in nacktem Zustand eintrat. Will hielt sich mit letzterem auf, blätterte die endlosen Abhandlungen über Licht, Luft und die gesundheitsfördernden Eigenschaften von Wiesen und Stränden durch, um auf eine einzige fesselnde Beschreibung einer Gruppe Heliophiler beiderlei Geschlechts zu stoßen, die um eine Quelle im Schwarzwald gehüpft waren. Es war halb sechs, als er das Buch wieder weglegte, und er war erregter als je zuvor.
    Die ganze Angelegenheit hätte hier ihr Ende gefunden, wenn er nicht zufällig ein maschinengetipptes Blatt Papier auf dem Nachttisch zur Seite geschoben hätte, als er das Buch zurücklegte. Es war der »Rehabilitationsplan« für Mrs. Eleanor Lightbody, und er begann um fünf Uhr morgens mit einer Darmspülung, einem Sitzbad und einer Massage im Frauenbad, gefolgt von Gymnastik und Keulenschwingen in der Turnhalle. Um halb sechs sollte sie eine »Schlesische Schlammpackung«, was immer das war, erhalten und zwanzig Minuten lang auf der oberen Veranda Tief-Atem-Übungen machen.
    Die obere Veranda. Will war schon zur Tür hinaus und hastete den Flur entlang, bevor der Plan auf dem Tisch landete.
    Leider war die Veranda verlassen bis auf eine unkenntliche, wie ein Eskimo verpackte Gestalt, die sich gegen den nächtlichen Himmel abhob. Die Gestalt stand vor dem Geländer am anderen Ende der Veranda, hoch über den Dächern des schlafenden Battle Creek, und sie schien in Todesangst zu ächzen oder zu schreien, die vermummten Arme hilflos fuchtelnd, die Beine wie Blei unter den dick auftragenden Deckenschichten. Will wollte sich gerade enttäuscht abwenden, als ihm irgend etwas im Tremolo der Ächzer bekannt vorkam. »Eleanor?« flüsterte er und zog den Bademantelkragen enger um den Hals.
    Eleanor – wenn es Eleanor war – antwortete nicht. »Acht – ha, ha, pah! « ächzte eine weibliche Stimme, und eine Kapuze verbarg das dazugehörige Gesicht. Sie beugte sich in der Hüfte, schlug mit den Armen wild um sich. »Neun – ha, ha, pah! Zehn – ha, ha, pah !«
    »Eleanor?«
    Da wandte sich die Gestalt mit der Kapuze ihm zu und zeigte ihm ihr Gesicht, das nicht das seiner Frau war, sondern eine Totenmaske, entsetzliche, reglose Züge, verkrampft wie eine geballte Faust. Er wich erschrocken einen großen Schritt zurück, aber die Augen in den im dunklen Schraubstockgriff der Maske leuchtenden Höhlen hielten ihn fest. »Will?« Die Lumpengestalt sprach seinen Namen aus, ihr Mund stand offen vor Überraschung. »Was in Gottes Namen …?«
    Alles in Ordnung –

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