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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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steckt ein Gott, und der heilige Tempel dieses Gottes ist der menschliche Körper, und wenn ein Mann wie Dr. Kellogg nötig ist, damit wir diese Wahrheit verstehen, dann ist auch er Teil dieser Gottheit.« Ihre Stimme klang körperlos, ihre Augen blickten in die Ferne. »Wenn ich daran denke, was er für die Menschheit getan hat – oder auch nur für den Verdauungskanal –, dann muß ich sagen, ja, er ist ein Gott, er ist mein Gott, und er sollte auch Ihrer sein.« Sie wandte sich ihm mit einem anklagenden Blick zu, und in ihren Augen brannte das Feuer der Rechtschaffenheit. »Und nach allem, was er für Sie getan hat, sollten Sie sich schämen, bis ins Mark sollten Sie sich schämen.«
    Will war besiegt. Die Brosche konnte er vergessen. Er konnte nicht einmal mehr das Etui anschauen. Vielleicht tat er es aus Frustration, aus Enttäuschung, aus Verzweiflung, aber was er als nächstes tat, schockierte sogar ihn selbst – er schlurfte vorwärts, nahm sie unbeholfen in die Arme, Schwester Graves, Irene, nahm sie in die Arme wie ein Liebhaber, neigte den Kopf und preßte seine Lippen auf ihre. Er küßte sie, hielt sie fest, drückte sie an sich, bis er etwas Warmes, Nasses auf der Brust spürte und sie sich befreite, und der nackte Ball aus schwarzem nassem Gummi lag zwischen ihnen auf dem Boden wie eine grausige Mißgeburt.
    »Mr. Lightbody –« Ihre Stimme versagte. Sie wich einen Schritt zurück. »Das ist … ich kann nicht …«
    »Will«, sagte er. Sie hatte ihn geküßt. Sie hatte seinen Kuß erwidert.
    »Mr. Lightbody, ich …«
    »Will.«
    »Will … Mr. Lightbody … ich bin ganz verwirrt, tut mir leid, ich – ich kann nicht. Nicht heute abend.«
    Nicht heute abend? Ich kann nicht heute abend? Aber das bedeutete ja …? Sein Herz drehte sich wie eine Turbine. Wenn nicht heute abend, dann an einem anderen Abend – ja –, und jetzt bedurfte es auch keiner Traubendiät oder Sinusbäder, um ihn zu erregen, er war bereit, zerrte am Stoff, lüpfte das Zelt seines Nachthemds, als ob der Augenblick gekommen wäre und er schußbereit vor dem Tor stünde.
    Aber sie sah an ihm vorbei, starrte hinunter auf das Klistier, aus dem die Flüssigkeit entwichen war. »Ich kann nicht«, wiederholte sie, und sie sah ihn nicht an, sie sah die Brosche auf dem Nachttisch nicht an, sah seine Füße nicht an, seine Hände, den Pfahl, der aus seinem Unterleib ragte, sah ihm nicht in die kranken hungrigen Augen. »Schwester Bloethal«, flüsterte sie, und ihre Stimme klang wie aus weiter Ferne. »Ich muß Schwester Bloethal holen.«
    Und so kam Schwester Bloethal, die mit den schwieligen Händen und dem eisernen Griff, und seine Erektion – seine ruhmreiche, lebensbejahende, verjüngende Erektion – schrumpfte in sich zusammen. Und wenn Irene an ihre Götter glaubte und das Klistier wie ein Sakrament handhabte, dann handhabte es Schwester Bloethal wie der Schakal des Todes.
     
    Am nächsten Morgen war es wieder Schwester Bloethal, und es war Schwester Bloethal vor und nach dem Mittagessen. Und wo war Irene? Sie fühlte sich nicht wohl. Nichts Ernstes? hoffte er. Nein, nur eine winzige Magenverstimmung.
    Magenverstimmung. War das eine Ironie des Schicksals? Auch Wills Magen spielte wieder verrückt. Er hatte eine Art Waffenstillstand erreicht, die Algen und Psylliumsamen hatten gewirkt, wie angekündigt, der beständige, schmerzstillende Milchfluß hatte dieses hypersensible Organ überschwemmt, bis es vollkommen abgestumpft gegenüber jeder Empfindung war. Sich selbst zum Trotz hatte Will einen vorsichtigen Optimismus verspürt. Aber jetzt, ganz unvermittelt, am Vorabend seines Wechsels zur Traubenkur, war Wills Magen wieder ein Hexenkessel voller Säure. Er schmeckte es hinten im Rachen, am Gaumen, auf den Lippen, an der Zunge: die Säure der Ablehnung, die Säure der Wut und der Verzweiflung. Er war mit einer Erektion aufgewacht, hatte von Irenes Lippen geträumt, ihrem Körper, den sie an ihn preßte, von dem Wunder ihrer weichen, nicht eingeengten Brüste, und sein erster Gedanke galt Eleanor. Es war ein unreiner Gedanke, ein selbstsüchtiger, wollüstiger Gedanke, aber so war es eben.
    Die Uhr auf der Kommode zeigte fünf Minuten nach fünf an; das Nachtlicht glühte sanft. Will stieß die Haube des Frischluftrespirators zurück, zog bibbernd Bademantel und Hausschuhe an und schlich hinaus in die sterile Weite der San-Korridore. War er schon in der Nacht, als die Sache mit dem Truthahn passiert war, vorsichtig gewesen,

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