Willkommen in Wellville
traf sie sich mit Lionel, der sie zu ihrer ersten Behandlung bei Dr. Spitzvogel begleitete, und sie wollte nicht, daß man sie für rückschrittlich hielt. »Ach, ich mache nur einen kleinen Spaziergang«, sagte sie und beobachtete Wills Miene im Spiegel.
»Einen Spaziergang? Aber es regnet, Liebste.«
Sie drehte sich zu ihm um, ging zu ihm und ließ ihn ihre Ellbogen halten, während sie ihm einen Kuß auf die Wange drückte. »Aber du weißt doch, wie gern ich im Regen spazierengehe – das liegt an meiner künstlerischen Veranlagung. Ich lasse meine Seele in die Lüfte emporfliegen wie eine Lerche.«
Plötzlich strahlte Will. »Ich weiß was«, rief er, »ich komme mit. Ein Spaziergang wird mir guttun. Und hör mal – Dr. Kellogg wird stolz auf mich sein, oder?«
»Nein, Will«, sagte sie, plötzlich nervös. »Oder vielmehr ja, Dr. Kellogg wäre stolz auf dich, und ich freue mich, daß du der physiologischen Lebensweise gegenüber eine positivere Einstellung gefunden hast, aber ich meine … ich glaube, ich gehe doch lieber allein – und bitte versteh mich nicht falsch. Ich muß einfach mit meinem inneren Selbst allein sein, das ist alles.«
Will war verletzt. »Willst du damit sagen, daß ich nicht mal mehr mit dir Spazierengehen darf? Eleanor, was ist nur los mit dir? Ich habe alles getan, was du wolltest – Trauben gegessen, bis sie mir wieder zu den Ohren rausgekommen sind, in der Turnhalle bin ich mit übergewichtigen Tycoons auf und ab gesprungen und hab’ dabei gelacht, und ich habe Kelloggs Stich über mich ergehen lassen. Mein Gott, warum können wir nicht nach Hause fahren, El? Einfach nach Hause fahren?«
»Das werden wir«, murmelte sie und entzog sich ihm, »alles zu seiner Zeit.«
»Nicht schon wieder diese Antwort, El – das sagst du jedesmal.«
Tatsache war, daß sie die Vorstellung nicht ertrug, nach dem aufregenden Aufenthalt im San nach Peterskill zurückzukehren. Was sollte sie dort schon tun – Bridge spielen, sich der Kirchenarbeit widmen, zusehen, wie die Weinrebe sich am Spalier entlangrankte? Sie konnte nicht für immer im San bleiben, und sie wußte, daß sie das Unvermeidliche aufschob, ihrem wirklichen Leben auswich und dem Grab ihrer Mutter, der Einsamkeit ihres Vaters und dem rosa Zimmer mit der Korbwiege oben an der Treppe, das für ihre Tochter bestimmt gewesen war, aus dem Weg ging. Aber sie war noch immer krank, sie war eine sehr kranke Frau, und sie konnte noch nicht weg. Noch nicht. »Ich meine es ernst, Will«, sagte sie, »ich verspreche es.«
Sein Gesicht schien eine einzige große Wunde. Er sah aus, als würde er jeden Augenblick zusammenbrechen und weinen. Als sie beunruhigt die Hand ausstreckte, um ihn zu trösten, stieß er sie zurück. »Nein«, sagte er, harsch, verbittert, beleidigt. »Das brauche ich nicht. Geh im Regen spazieren. Laß deine Seele in die Lüfte fliegen.« Und dann drehte er sich um und war verschwunden.
Sie traf Lionel in der Eingangshalle, und wortlos gingen sie hinaus und stiegen in die Droschke, die neben dem Gehweg wartete. Drinnen war es stickig und eng, und sie war sich seines Knies, das er gegen ihres preßte, als er versuchte, in dem engen Gehäuse seine Beine zu arrangieren, nur zu deutlich bewußt. »Sie tun das Richtige«, sagte er. »Sie werden mir noch tausendmal dafür danken.«
Sie wollte geistreich sein und fröhlich, wollte die Situation meistern, aber es gelang ihr nicht. Sie horchte auf das Klappern der Pferdehufe auf dem nassen Pflaster, beobachtete, wie die Bäume über der Schulter des Kutschers auf sie zukamen, glättete eine Falte in ihrem Handschuh. »Dessen bin ich sicher«, murmelte sie.
Dr. Spitzvogels Ordination befand sich in seinem Haus, einem absolut respektablen, herrschaftlichen Haus im Tudor-Stil im schicken Westteil der Stadt, nicht weit von Dr. Kelloggs Residenz entfernt. Eleanor dachte flüchtig an ihren Boss und Mentor – was würde er von dem halten, was sie im Begriff stand zu tun? – und kam sich wie eine Verräterin vor. Aber der Anblick von Dr. Spitzvogels Heim beruhigte sie ebenso wie die Gegenwart Lionels – der Präsident der Vegetarischen Gesellschaft Amerikas würde sie wohl kaum vom rechten Weg abbringen, oder? Außerdem konnte man nicht einmal von Dr. Kellogg erwarten – auch wenn er sich damit brüstete, alle neuen medizinischen Entwicklungen in der Welt zu verfolgen, angefangen beim Pasteur-Institut bis zum Royal College of Surgeons –, daß er alles wußte. Und so
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