Willkommen in Wellville
sich bis zu den Mundwinkeln hin, straff wie bei einer Trommel oder einer Tierhaut, die über einen Leisten gespannt ist. Ihre Handgelenke waren wie zwei Paar Fingerhüte, die jeweils mit einem Band aus Haut zusammengehalten wurden, und ihre Augen blickten gehetzt, wurden von Tag zu Tag größer und glänzender. Eines Abends bemerkte er beim Essen, daß sie ihren Ehering nicht trug, und er war gekränkt, erwähnte es jedoch am Tisch in Gegenwart der anderen nicht. Als er sie im Korridor beiseite nahm und darauf ansprach, fischte sie den Ring mit dem Diamanten aus der Handtasche und zeigte ihm, warum sie ihn nicht trug: Er rutschte ihr vom Finger herunter wie von einem Bleistift.
»Aber was ist nur los, El?« fragte er sie. »Du bist hier, um zuzunehmen, nicht um abzunehmen.«
Sie zuckte die Achseln, blickte verlegen zu ihm auf, und ihre Augen waren wie zwei Seen. »Ich esse doch«, sagte sie.
»Du bist nur noch Haut und Knochen.«
»Du mußt gerade reden.«
»In Ordnung, zugegeben, aber ich hatte Magenprobleme, wie du sehr wohl weißt – und ich esse jetzt zumindest feste Nahrung, auch wenn es Kleiebrei oder nasser Pappdeckel oder sonst was ist, was sie einem hier vorsetzen, aber du ißt überhaupt nichts, soweit ich sehe.«
Sie lehnte sich an die Wand, schmollte, spielte mit ihrer Halskette. »Ich habe keinen Hunger«, murmelte sie, sah an ihm vorbei und schenkte einem elegant gekleideten Paar, das vorüberschlenderte, ein strahlendes Lächeln.
»Keinen Hunger?« Will konnte es nicht glauben. Es tat ihm weh, machte ihn wütend. »Aber du bist doch diejenige, die biologisch lebt, die vegetarische Prinzessin, du bist doch diejenige, die falsche Austern und Sanitas-Frikassee für den Gipfel kulinarischer Kochkunst hält –«
Sie ging bereits weiter, promenierte mit gefaßter Miene den Korridor entlang, als hätte sie kein Wort von dem gehört, was er gesagt hatte. Aber sie hatte es gehört. Denn sie blieb stehen, bevor sie zehn Schritte gegangen war, und drehte sich zu ihm um. »Ich versichere dir, das geht vorüber«, sagte sie. »Ich habe nur jetzt gerade keinen Hunger, das ist alles. Kannst du mir nicht einen Augenblick Frieden gönnen?«
Später am Abend, nachdem er in Hausschuhen durch die Flure geschlurft war, um sich Bewegung zu verschaffen, und versucht hatte, die erste Seite des Buchs Die Erweckung der Helen Ritchie zu lesen (es gelang ihm nicht, er schlief fast dabei ein), vertraute er sich Irene an. »Ich mache mir Sorgen um Eleanor«, sagte er, während er sich im Badezimmer wusch und sie sein Zimmer aufräumte und die Bettdecke für ihn zurückschlug. »Sie ißt nicht.«
Irene tauchte in der Tür auf. »Ja, ich habe es auch bemerkt«, sagte sie und sah zu, wie er seine Backenzähne mit der Zahnbürste bearbeitete, »und ich habe dergleichen auch schon früher beobachtet – bei anderen Frauen mit einem starken Willen. Das heißt, bei Frauen wie ihr.«
Will hielt inne, zog die Zahnbürste aus dem Mund. »Sie haben das auch schon früher beobachtet? Was meinen Sie?« gurgelte er mit Zahnpulverschaum im Mund, bevor er sich vorbeugte, um auszuspülen. Wenn Eleanor in den letzten Wochen abgenommen hatte, so hatte Irene zugenommen, hatte hinreißende Rundungen angesetzt an Stellen, wo sie am wichtigsten waren. Sie war schon immer robust gewesen, aber jetzt platzte sie fast aus allen Nähten, breitschultrig und vollbusig, wie sie war, mit Oberschenkeln, die sich deutlich unter der hellen, engsitzenden Tracht abzeichneten.
»Ich glaube nicht, daß es pathologisch ist. Sie übergibt sich nicht, oder? Absichtlich, meine ich?«
»Nein, natürlich nicht. Zumindest weiß ich nichts davon.«
Irene war jetzt auf der anderen Seite des Zimmers, ordnete Sachen, die sie bereits zweimal geordnet hatte, mit ihm allein im Zimmer fühlte sie sich nie mehr wirklich entspannt – obwohl die Tür immer einen Spaltbreit offenstand um der Schicklichkeit willen und in Übereinstimmung mit den Anweisungen des Bosses. Seit dem längst vergangenen Abend, als er sie geküßt hatte, vermied sie körperlichen Kontakt mit ihm außer zu strikt medizinischen Zwecken – sie überwachte seinen Zustand, verabreichte ihm Trauben, Lactobazillen und Klistiere, hatte ihn während des postoperativen Traumas gepflegt. Sie waren Freunde, gewiß – er fühlte sich ihr mehr verbunden als je zuvor –, aber es gab keine Geschenke und keine Küsse mehr. Er wünschte, es wäre anders. »Wissen Sie, Mr. Lightbody«, hauchte sie und drehte
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