Willkommen in Wellville
ganz neue und absolut ungefährliche Behandlungsmethode und der letzte Schrei in Europa.« Lionel bedachte sie mit einem Blick aus seinen karamelbraunen Augen. »Um es zu wiederholen: nur weil Dr. Kellogg – ich will ihn nicht kritisieren, er hat mir sehr viel Gutes getan, und seine Ideen weisen in die richtige Richtung- so puritanisch ist, hat er Siegfried Spitzvogel bislang noch keinen Posten im Sanatorium angeboten. Aber das ist kein Hindernis: Ich kann Sie ihm vorstellen.«
Sie sahen sie jetzt beide an, beide atmeten flach, und auf beiden Gesichtern stand der Schweiß. Die Sonne brannte, und Eleanor fühlte sich plötzlich unbehaglich und bemerkte, daß sich ihre Handrücken rosa gefärbt hatten. Sie wollte gerade ja sagen, natürlich würde sie Dr. Spitzvogels Therapie ausprobieren – wenn sie bei dieser Kuh Virginia Cranehill positive Ergebnisse erzielte, nun, dann würde sie selbst noch weitaus mehr Nutzen daraus ziehen –, aber Frank Linniman unterbrach sie.
Er stand jetzt neben ihnen, einen Erdfleck auf seiner weißen Segeltuchhose und einen weiteren auf der Backe. »Sehen Sie«, rief er, »sehen Sie, was wir gefunden haben!« Eleanor bemerkte Professor Gunderson hinter ihm, der vornübergebeugt dastand und grinste, bis sein Gesicht aussah, als bestünde es aus zwei Hälften. Frank hielt ihnen etwas hin, einen weißen, lehmverschmierten Stein, aber dann sah sie, daß es überhaupt kein Stein war.
»Mindestens vierhundert Jahre alt«, sagte Frank, und seine Stimme gab alle Höhen und Tiefen seiner Gefühle wieder. »Eine Frau, glauben wir. Und sehen Sie sich das an« – er deutete mit einem schwarzen Fingernagel auf das Loch, wo vielleicht einmal ein Ohr gewesen war, wo vor langer Zeit der Finger eines Liebhabers in einer Liebkosung verweilt haben mochte –, »sehen Sie das? Dieses Organ hinter dem Schläfenbein, hier an der Schädelbasis?«
Eleanor sah den gebleichten Knochen, vom Alter durchlöchert, sah den herunterhängenden Unterkiefer, die Augenhöhlen, den in einer lebenden Hand zusammengefaßten Tod. »Ja«, sagte sie, »ja, Frank, was ist das?«
»Sinnlichkeit«, sagte er. »Das ist ihr Organ für Sinnlichkeit. Sehen Sie, wie stark es entwickelt ist im Vergleich mit diesem Organ für das logische Denken? Oder diesem hier für Ordnung? Oder sehen Sie hier – sehen Sie, wie klein diese Scheibe ist? Das ist der Sitz der Spiritualität.« Sein Finger fuhr durch die nackte Kugel des Schädels, stach hier und dort zu wie ein Zeigestab.
»Was bedeutet das?« fragte Lionel und verlagerte sein Gewicht auf den Rand der Decke.
Frank ließ sich Zeit, genoß den Augenblick. Hinter ihm flatterten Schmetterlinge durch die Luft wie Fetzen bunten Papiers, und die zwei Arbeiter lehnten zufrieden auf ihren Schaufeln. »Das bedeutet Wollust«, sagte er. »Das bedeutet, daß sie sich nicht zurückgehalten hat. Das bedeutet, daß sie ein Pfuhl der Begierde war.« Er schüttelte den Kopf. »Diese Indianer«, sagte er schließlich, »kein Wunder, daß sie es nie zu was gebracht haben.«
Am Ende der Woche, am Freitag, regnete es, ein warmer Frühlingsregen, der auf das Pflaster prasselte und melodiös die Rinnsteine entlangfloß. Eleanor hatte ihre tägliche Behandlung um vier Uhr abgeschlossen und zog sich an, um auszugehen, als Will in ihrem Zimmer vorbeischaute. »Hallo, Liebling«, sagte er und zögerte auf der Schwelle, »ich wollte nur wissen, wie’s dir geht – du gehst doch nicht etwa aus? Bei diesem Wetter?«
Sie puderte sich das Gesicht, knöpfte ihren Regenmantel aus Kaschmir zu und rückte ein letztes Mal die Toque aus blauem Samt vor dem Spiegel zurecht. Wills scheinbar naive Frage enthielt eine Spur Kritik – war sie blind? sah sie denn nicht, daß es regnete? –, und das irritierte sie. Besonders jetzt, besonders heute. Ihre Nerven flatterten, sie fühlte sich schwindlig, komisch, fast als würden ihre Füße den Boden nicht berühren. Denn sie hatte zwar eines ihrer schicksten Kostüme angezogen (der neueste englische Schnitt, zweireihig, königsblau, mit einem übertrieben großen Taftkragen als Kontrast) und eine ihrer besten französischen Satinblusen, doch darunter trug sie nur einen Slip und nichts, was ihre Brüste hielt. Es war ein zugleich merkwürdiges und befreiendes Gefühl, ihre Brustwarzen kamen immer wieder neu in Kontakt mit dem glatten Stoff, und zwischen ihren Beinen war es kühl, aber sie empfand das als notwendigen Bestandteil der Erfahrung – um Viertel nach vier
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