Willkommen in Wellville
viele Frauen aus dem San fanden Dr. Spitzvogels Behandlungsmethode wohltuend – und befriedigend. Was hatte sie zu verlieren? Eleanor stieg aus der Droschke mit aufgeschlossenem Geist, entschlossen, sich gänzlich der Spitzvogelschen Therapie zu überlassen, komme, was da wolle, und sich vorurteilslos ein Urteil zu bilden, so wie es einer vorausschauenden und progressiven Gesinnung anstand.
Der geheimnisvolle Arzt stellte sich als ziemlich gewöhnlicher Mann mittlerer Größe heraus, mit dunklem, angeklatschtem Haar, gewachstem Schnurrbart und einem Monokel, das unter Aufbietung erstaunlicher Muskelkontrolle ins rechte Auge geklemmt war. Er hatte einen starken Akzent, aber ihm fehlte das Schroffe, das Eleanor mit Deutschstämmigen assoziierte – und er schnurrte auch mehr, als daß er sprach. Er trug einen Tweedanzug, und ein leichter Geruch nach verbranntem Holz und Lakritze haftete ihm an. Sie mochte ihn sofort.
Dr. Spitzvogel führte sie in einen im Ästhetischen Stil der späten siebziger Jahre eingerichteten Salon, komplett mit einem vergoldeten und mit Ebenholz eingelegten japanisierenden Wandschirm und einem dazu passenden Raritätenkabinett der Brüder Herter. Sie setzten sich an einen niedrigen Tisch und plauderten bei Kleiewaffeln und einem mit Moschus parfümierten Kräutertee, der nach exotischer Erde und fernen Ländern schmeckte, über Nebensächlichkeiten. Nach einer Weile stand Lionel auf und entschuldigte sich. Kaum war die Tür hinter ihm ins Schloß gefallen, nahm Dr. Spitzvogel Papier und Bleistift zur Hand und stellte Eleanor Fragen bezüglich ihres Zustands – zuerst ganz allgemein, aber im Verlauf des Gesprächs wurden die Fragen intimer und unmißverständlicher. Sie erzählte ihm von ihren plötzlichen Gefühlsausbrüchen, wie der Anblick einer dreizackigen Gabel oder eines geklöppelten Spitzenkragens sie mit unerträglicher, überschäumender Freude oder mit ebenso extremem Kummer erfüllen konnte, wie sie nachts zitternd aufwachte und barfuß durch den Tau lief, erzählte ihm vom Tod ihrer Mutter und den Problemen ihres Mannes und daß sie glaubte, daß Schönheit, Wahrheit und das Streben nach einer physiologischen Lebensweise die einzigen Dinge im Leben waren, die die Mühe lohnten, sich ihnen zu widmen.
Er verstand sie völlig. »Sie arme Frau«, murmelte er, zupfte an seiner Unterlippe und nickte ernst mit der pomadisierten Kugel seines Kopfes, während sie die Liste ihrer Leiden vervollständigte. Nachdem er zufriedengestellt war, zwinkerte er sie so auffällig und voller Mitgefühl an, daß sein Monokel herauszufallen drohte, und dann verschwand er hinter dem Wandschirm. Einen Augenblick später trat er wieder hervor, angetan mit der weißen Jacke des gewöhnlichen Arztes, wiewohl die Tweedhosen nicht dazu paßten, und Eleanor fragte sich, warum er die Jacke, aber nicht die Hose gewechselt hatte. »Wollen Sie bitte hier hereinkommen?« fragte er, wobei er das S summend aussprach.
Eine Tür hinter dem Wandschirm führte in seine eigentliche Ordination, zwei friedliche, holzgetäfelte Räume, die so gedämpft beleuchtet waren, daß es eine Weile dauerte, bis sich Eleanors Augen angepaßt hatten. Ein Schreibtisch stand da, ein paar Stühle mit gerader Lehne und die üblichen Utensilien eines Arztes. Durch die geöffnete Tür zum Hinterzimmer sah sie verschwommen einen gepolsterten Untersuchungstisch und matt schimmernde Ölgemälde an den Wänden. Plötzlich raste ihr Herz. Um etwas, irgend etwas zu sagen, machte sie eine Bemerkung zu den gerahmten, im Dämmerlicht nicht entzifferbaren Urkunden, die hinter dem Schreibtisch an der Wand hingen. »Sie haben Ihre Ausbildung vermutlich in Deutschland erhalten?« sagte sie und deutete auf die Urkunden.
»O ja«, schnurrte er, und dann summte und schnurrte er gleichzeitig, »an den Universitäten von Kiel und Heidelberg. Aber nicht in Medizin, meine werte Dame, was, wie Sie wissen, eine enge und beschränkte Disziplin ist, sondern in der Philosophie physiologischer Systeme und natürlich in therapeutischer Massage – insbesondere in der Handhabungstherapeutik. Aber bitte, gestatten Sie«, summte er, faßte sie leicht beim Ellbogen und führte sie ins Hinterzimmer.
Hier war der Geruch nach Lakritze, den sie schon vorher bemerkt hatte, durchdringend, als ob die Luft damit gewürzt wäre, und in diesem Zimmer war es auffällig wärmer als im angrenzenden. Das einzige Licht stammte von zwei Leuchtern mit flackernden Kerzen, und es gab
Weitere Kostenlose Bücher