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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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er sie an, vorgeblich aus seinem mahagonigetäfelten Büro, tatsächlich jedoch aus der Drogerie oder aus der chinesischen Wäscherei, wo die Geräusche der Dampfpressen seinem Bluff eine Aura von Authentizität verliehen. Warum konnte sie ihn nicht anrufen? wunderte sie sich. Irgend etwas mit den Leitungen funktionierte nicht, entgegnete er, man konnte nur hinaustelephonieren, und das war eine Katastrophe fürs Geschäft, wie sie sich denken könne, und die Telephongesellschaft sei dabei, den Schaden zu beheben, auch jetzt, genau in diesem Moment. Aber warum hatte niemand im San von Per-Fo und seinen Wohltaten gehört, und warum stand es nicht in den Regalen von Offenbacher zu Hause in Peterskill? Sie hatte geschaut und geschaut. Deswegen arbeite er ja so hart, sagte er, statisches Rauschen im Ohr, deswegen könne er sich besonders diese Woche so schlecht loseisen. Aber, beharrte sie, er müsse sich loseisen, und ihr Tonfall verbot jede Widerrede. Er müsse sie durch die Stadt begleiten, ihre Nerven beruhigen, ihr dabei helfen, sich an alles zu gewöhnen, was fremd und neu war – und besonders dringend müsse er ihr diese Fabrik zeigen, für die sie ein kleines Vermögen gestiftet habe. »Ein kleines Vermögen, Charles«, wiederholte sie nachdrücklich.
    Sie war an einem Freitag angekommen, und er schaffte es, sie bis Montag hinzuhalten. Dann überredete er sie, mit ihm in einem neueröffneten vegetarischen Restaurant im Stadtzentrum zu essen statt im San (überall, nur nicht im San). In der Zwischenzeit begann er, sich einen Backenbart und einen Schnurrbart stehen zu lassen, ging dazu über, eine Brille mit dunklen Gläsern zu tragen, und fand ein Zimmer ohne Verpflegung für eineinhalb Dollar pro Woche. Das Zimmer war im Süden der Stadt gelegen, auf halber Strecke zum Lake Goguac, in einer verwahrlosten Seitengasse, die aussah, als müßte sie erst noch der Wildnis entrissen werden. Es war abgelegen und ruhig, und alles in allem fühlte er sich dort sicher. Er schickte Ernest O’Reilly zu Mrs. Eyvindsdottir, damit er ihm seine Sachen holte, wobei er ihn anwies, die Hintertreppe zu benutzen und beide Strecken auf Umwegen zurückzulegen. Es war verrückt, hoffnungslos, er lebte am Rand des Abgrunds, er wußte es, aber es gab keine andere Möglichkeit. Das war das Leben eines Mannes mit Weitblick, eines Mannes, der alles auf eine Karte setzte, eines Genies, eines Tycoons: Wer nichts wagt, der nichts gewinnt.
    Das Café Nonpareil (Nahrhaftes Essen ohne Blutvergießen) war eine verkleinerte Kopie des San-Speisesaals, geführt von einer fanatischen ehemaligen Patientin, die ihre Heilung den Rezepten des Doktors und einer quasi-religiösen Offenbarung zuschrieb, in der ihr ein anthropomorphes Lamm mit dem Stempel des Metzgers auf dem Hinterbein erschienen war. Auf der Speisekarte standen Gerichte wie Rübenkrautsalat und gedünsteter Topinambur. Während des Essens beschwerte sich Mrs. Hookstratten unerbittlich und unablässig, fragte sich, wie um alles in der Welt ihr Junge, den sie auf die besten Schulen geschickt und dem sie den Einstieg ins Geschäftsleben ermöglicht hatte, sie so schäbig behandeln, sie Fremden ausliefern und sie so gut wie mutterseelenallein lassen konnte. »Erzähl mir nicht, du hättest keine Zeit für mich, Charles, erzähl mir bloß das nicht«, piesackte sie ihn und stach in ein klebriges Bällchen ungeschälten Reises.
    Charlie flehte, setzte seinen Charme ein, log. Er brachte sein ganzes Geschick als Hochstaplerlehrling und professioneller Heuchler zum Einsatz, um sie zu besänftigen, er stimmte ihr in jedem Punkt zu, gab Versprechen aus wie Falschgeld und webte dabei ein so dichtes Netz aus Lügen, daß es als Programm einer politischen Partei geeignet gewesen wäre. Am Freitag führte er sie wieder aus, und sie nörgelte erbarmungslos an ihm herum. Wo war er gewesen? Hätte er nicht wenigstens anrufen können? Ihr eine Nachricht zukommen lassen? Sie war jetzt eine Woche hier, und er hatte noch nicht einmal ihr Zimmer gesehen. War es ihm gleichgültig, wie es ihr erging oder wo sie untergebracht war? Lag ihm nichts an ihrer Behaglichkeit? Ihrer Gesundheit? Ihren Nerven? Ihrem Jucken? Und was war mit der Fabrik? Sie begann zu glauben, daß es sich um ein Luftschloß handelte.
    Diesmal war Charlie bereit. Endlich. »Wie wär’s mit Sonntag, Tantchen? Es ist der einzige Tag, an dem nicht gearbeitet wird, und du willst doch nicht etwa kommen, wenn der Betrieb auf Hochtouren läuft, der

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